Obwohl die Vojta-Therapie bei Babys sehr umstritten ist und viele Eltern (ver-)zweifeln lässt, sieht es nicht so aus, als könne sie bald „ins Gruselkabinett verbannt“ werden, wie die Kinderpsychiaterin Dr. Franziska Cottier-Rupp es ausdrückte (siehe „Kritische Expertenstimmen“). Doch woran liegt es, dass ein Ende dieser – wie ich finde furchtbaren – Methode nicht in Sicht ist? Wenn Geisterfahrer auf der falschen Bahn sind, fahren sie oft immer schneller in der Hoffnung, dass eine Ausfahrt kommt. Ähnlich ist es im alltäglichen Leben auch: Wenn ich merke, dass ich auf einem falschen Weg bin, ist es oft umso schwieriger, diesen Weg zu verlassen, je länger ich ihn schon gehe.
Manchmal klebt man regelrecht auf falschen Wegen – einerseits in der Hoffnung, es könnte sich plötzlich ein Ausweg zeigen. Andererseits fühlt man sich möglicherweise wie ein Verlierer, wenn man den eingeschlagenen Weg aufgibt. Manche Wege können wie eine Sucht sein, obwohl man genau weiß, dass sie falsch sind. Immer mehr muss man sich innerlich rechtfertigen, immer größer wird die Scham, weil man einen falschen Weg bewusst weiter geht. Das Loslassen kann zu einem richtigen Kraftakt werden.
Übersetzt auf die Vojta-Therapie mag das heißen: Nachdem die Eltern sich erst einmal auf die Vojta-Therapie eingelassen haben, ist es manchmal schwer für sie, diesen Weg wieder zu verlassen. Wir haben hier eine Therapieform, bei der Mütter mit Schuldgefühlen kämpfen und bei der die Grenzen des Kindes überschritten werden. In der ersten Vojta-Stunde mag die Mutter noch den Impuls verspüren, das Kind aus dieser schrecklichen Situation zu befreien. Doch die Physiotherapeutin beschwichtigt – sie sagt, das Kind schreie nur aufgrund der Anstrengung, obwohl die Mutter Angst und Verzweiflung aus dem Schreien ihres Babys hört. Dass das Baby „trocken“ (also ohne Tränen) schreie, sei ein Zeichen dafür, dass es keine Schmerzen habe. Die Mutter unterdrückt daraufhin ihre Zweifel und lässt sich auf diesen Weg ein – schließlich will sie sich später keine Vorwürfe machen, wenn ihr Kind sich möglicherweise nicht richtig entwickelt. Eine Mutter drückte es in meiner Umfrage so aus:
„(Die Therapie ist) keinesfalls schön für die Mama, aber man sollte wissen, dass das Baby nicht nachtragend ist und es später eher Vorwürfe machen würde, wenn es Schäden hätte, weil wir zu schwach waren, die Therapie durchzuhalten. Zumindest motiviere ICH mich mit diesen Gedanken!“
Häufig stellen Mütter fest, dass ihr Baby nach der Therapie lacht. Viele interpretieren es so, dass es ihm gut geht und dass die Therapie ihm gut getan hat. Doch das Baby lächelt in dieser Situation möglicherweise einfach aus Erleichterung darüber, dass die Qual ein Ende hat.
Die Meinung, dass das Baby sich später nicht erinnern könne, muss heute angezweifelt werden. Frühe Erfahrungen wie die der Vojta-Therapie werden im „impliziten Gedächtnis“ abgespeichert. Das Kind kann sich später zwar nicht bewusst erinnern, doch es zeigt seine impliziten Erinnerungen möglicherweise, indem es sich in bestimmten Situationen anspannt, während Umstehende sich fragen, was denn gerade so gefährlich ist. Häufig ist die unbewusste Erinnerung an Zeiten, in denen wir noch keine Worte hatten, schlimmer als die bewusste Erinnerung an schlimme Ereignisse, die wir in Worte fassen können. Die frühen Erfahrungen werden wahrscheinlich auch in das Körpergedächtnis eingeschrieben. Was das bedeutet, wird zur Zeit gerade erst erforscht.
Auch das sollte kein Argument für die Therapie sein. Kinder, die von ihren Eltern beispielsweise misshandelt wurden, fordern auch als Erwachsene noch ein, dass andere sie schlecht behandeln oder gar quälen. Kinder suchen immer das auf, was sie kennen – auch das, was ihnen möglicherweise nicht gut tut. Extrem gesprochen: Es gibt auch masochistische Erwachsene, die es genießen, wenn man ihnen Qualen zufügt. Kinder, die gequält werden, können das psychisch oft nur überleben, indem sie die schreckliche Situation umkehren („pervertieren“) und daraus ein Wohlgefühl gewinnen. Sie bringen sich selbst dazu, das Schlimme zu „genießen“, um ihre Verzweiflung zu bewältigen.
Mütter, die die Therapie – oft gegen inneren Widerstand – fortführen, sagen gelegentlich, dass die Vojta-Therapie ihre Beziehung zum Kind gestärkt habe. Doch was ist damit gemeint? Extreme Situationen verbinden Menschen. Doch ist die vermeintlich gute Bindung mag in Wirklichkeit manchmal eher eine ängstliche Anhänglichkeit sein. Das verunsicherte Kind ist möglicherweise in Angst an die Mutter gebunden. Die Bindung mag durch die Vojta-Therapie enger erscheinen – aber es ist die Frage, ob das eine „gute Bindung“ ist.
Viele Mütter erlauben sich keinerlei Aggression. „Mütter sind nicht aggressiv“, so die allgemeine Meinung oder zumindest der allgemeine Wunsch. Mütter, die sich selbst besonders kritisch beäugen, verdrängen jegliche Aggression. Doch Aggressionen gehören zum Muttersein genauso dazu wie Liebe auch. Beispielsweise ist es mitunter natürlich, traurig und wütend zu sein, wenn ein Kind krank oder behindert ist oder sich vielleicht nicht „richtig“ entwickelt. Eltern jedoch, die ihre Wut sofort verdrängen, weil sie ja nicht sein darf, haben ein Problem. Wohin mit der Aggression?
Unterdrückte Aggression wird nicht selten in „Fürsorge“ umgewandelt.
Das Kind wird übermäßig gepflegt und medizinisch versorgt. Wenn die Mutter mit verdrängter Aggression dann ein Rezept für eine Vojta-Therapie erhält, passiert psychisch so etwas: Die Mutter kann nach außen zeigen, dass sie dem Kind etwas Gutes will. Sie „therapiert“ ja das Kind, sie nimmt Schwieriges auf sich, um dem Kind zu helfen. Doch das schreiende Kind ist wie ein Ventil für ihre eigenen aufgestauten Aggressionen. Wer kennt das nicht: Wenn wir wütend sind und es uns gelingt, den anderen selbst wütend zu machen, dann sind wir möglicherweise erstmal erleichtert. Bleibt der andere, auf den wir wütend sind, ruhig und gelassen, kann uns das unter gewissen Umständen rasend machen.
Die Mutter ist geschützt – sie hat ein Rezept, den Rat eines Kinderarztes, sie will helfen. Die Therapie ist dann wie ein Deckmäntelchen, unter dem die eigenen Aggressionen versteckt und dennoch ausgelebt werden können. Diese Vorgänge sind den vielen Müttern nicht bewusst – bewusst wird ihnen die Scham und das Schuldgefühl. Daher ist es oft sehr schwierig, mit ihnen darüber ins Gespräch zu kommen.
Dunja Voos
Vojta-Therapie bei Babys – ein Aufschrei.
Hilfe bei einem ganz speziellen Trauma
Selbstverlag, Pulheim, 9.2.2021
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Dieser Beitrag erschien erstmals am 3.4.2011
Aktualisiert am 19.10.2023
Endlich! Die Diskussion um die Vojta-Therapie bei Babys hat ihren Weg in die Medien gefunden! Die Mai-Ausgabe 2014 der Zeitschrift ELTERN berichtet über die Vojta-Therapie. Die Redakteurin Nora Imlau hat einen sehr ausgewogenen Artikel geschrieben, in dem Pro- und Kontra-Stimmen ihren Platz haben. Die Kontra-Stimme kommt natürlich von mir – das Interview finden Sie auf S. 43: „Vojta schadet Kinderseelen“.
Von der Internationalen Vojta-Gesellschaft (IVG) erhielt ich nun eine Stellungnahme zu meiner Vojta-Beitragsreihe. Ich möchte betonen, dass meine eigene Meinung zur Vojta-Therapie in dem Kapitel „Vojta-Therapie bei Babys – eine Kritik“ zu lesen ist. Ich distanziere mich ausdrücklich von der Meinung der Vojta-Gesellschaft. Ich möchte Mütter weiter dazu ermuntern, auf ihr Gefühl zu hören und bei einem unguten Gefühl nach anderen Therapiemöglichkeiten (z.B. Bobath) zu suchen. Worte auf dem Papier klingen oft schön – doch wer die Schreie der Babys hört und einfühlsam ist, wird auch ihre große Not erspüren. Weiterlesen