Wer eine Psychoanalyse-Ausbildung macht, betreibt täglich eine Art Hochleistungssport. Man braucht ein gutes Durchhaltevermögen, das nur aufrecht erhalten kann, wenn es mehr Freud als Leid gibt. Die Abhängigkeit von Patienten, Gutachtern, Krankenkassen, Supervisoren, Institutsleitern, Lehranalytikern und den Finanzen lehrt einen, mit Ungewissheiten zu leben. Man ist wieder Schüler und stellt sich selbst in Frage. Man lernt, dass auch Psychoanalytiker nur Menschen sind, die die Institutsstrukturen mitgestalten und unter Systemen leiden.
Psychoanalyse ist immer mit intensiven Beziehungen und somit auch mit starken Gefühlen verbunden. Liebe, Trauer, Neid, Eifersucht, Angst, Ärger, Hass, Rachegefühle und Enttäuschungen werden in der Ausbildung auch deshalb so intensiv erlebt, weil ein Ausbildungsinstitut familiäre Strukturen bietet, in denen viele alte Probleme wieder zutage treten können.
Einige kommen vielleicht mehrmals an den Punkt, an dem sie sich fragen, ob sie die Ausbildung überhaupt fortsetzen möchten. An so einem Punkt liest man vielleicht auch gerne mal kritische Literatur wie das Buch von Jeffrey Moussaieff Masson (geb. 1941): „Final Analysis. The Making and Unmaking of a Psychoanalyst“ (Addison-Wesley Publishing Company, 1990, amazon).
Der Autor wurde bekannt durch sein Buch „The Assault on Truth“, in dem er darüber schrieb, warum sich Freud (angeblich) von der Verführungstheorie distanzierte. Masson wollte betonen, dass sexueller Missbrauch in der Kindheit meistens tatsächlich stattgefunden hat, wenn sich Patientinnen und Patienten daran erinnern können. Unter anderem in der Folge dieser Diskussionen wurde er als Direktor des Sigmund-Freud-Archivs („These documents are protected and preserved at the United States Library of Congress“) und als Psychoanalytiker aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPA) entlassen.
Der Autor Jeffrey Moussaieff Masson war Anfang 30 und lehrte als Professor für Sanskrit an der University of Toronto, Kanada, als er seine Ausbildung zum Psychoanalytiker begann. Hier erlebte Masson unglaubliche Geschichten. Es war die Zeit, in der die Analytiker noch hinter der Couch rauchten, es keine Ethikkommissionen und keine verlässlichen Non-Reporting-Systeme gab (Non-Reporting-System = der Lehranalytiker darf in der Ausbildungskommission nichts über seinen Ausbildungskandidaten erzählen).
Masson beschreibt, wie er von seinem Lehranalytiker regelmäßig drangsaliert wurde, wie sein Lehranalytiker manchmal bis zu 45 Minuten zu spät kam und dann behauptete, er könne in seiner Praxis machen, was er wolle. Es ist kaum vorstellbar, wie ein Kandidat eine solche „Analyse“ aushalten konnte. Masson nahm unglaubliche Erniedrigungen hin, kam aber aufgrund seiner Abhängigkeit in der Ausbildung nicht von dieser Analyse los.
In der Ausbildung ist man sehr mit sich selbst beschäftigt und spürt seine Individualität vielleicht mehr denn je. Das kann unter Umständen dazu führen, dass man sich aus der Gruppe der Mit-Kandidaten ausgeschlossen fühlt, weil man denkt: „So spezielle Probleme wie ich hat hier niemand sonst.“ Das Problem kann sich verstärken, wenn man z.B. weder Arzt noch Psychologe ist und als Akademiker einer anderen Fachrichtung die Ausbildung macht. Viele Kandidaten in der Psychoanalyse-Ausbildung stammen aus einer gehobeneren sozialen Schicht („Wer wird Psychoanalytiker?“) und sind verheiratet. Masson schreibt, wie störend es sich anfühlen kann, wenn man diese Gemeinsamkeiten nicht teilen kann.
„Every single candidate was married – I believe it may even have been a prerequisite, perhaps as a sign of emotional maturity or of social conformity.“ S. 101
Bei vielem, was Masson schreibt, kann man als angehender Analytiker wirklich schmunzeln und denken: „gut getroffen“. Masson gelingt es, in einer spannenden, einfachen und doch intellektuellen Sprache die Psychoanalyse und „die Analytiker“ treffend darzustellen. Manchmal dachte ich beim Lesen erleichtert: „Ihm ging’s genauso.“ Es ist vielleicht schockierend zu lesen, dass anscheinend viele Psychoanalytiker damals, Anfang der 80er Jahre, auf vielen Ebenen noch sehr konform mit den Psychiatern gingen und z.B. Elektrokrampftherapien für eine gute Therapie-Möglichkeit hielten.
Im Laufe des Buches entsteht das Bild, dass Masson in der Psychoanalyse von nahezu jedem Kollegen letzten Endes enttäuscht wurde. Er schreibt, wie er sich in der Rolle des Psychoanalytikers selbst nicht wohl fühlte.
„Die Lehranalyse ist das Kernstück der Psychoanalyse-Ausbildung.“ Diesen Satz höre ich oft in der Ausbildung. Manche sagen distanzierend: „Die Lehranalyse ist auch nicht alles.“ Aber vielleicht ist sie ein bisschen mit der Kindheit vergleichbar: „Mit einer Kindheit voll Liebe kann man ein ganzes Leben lang aushalten“ (Jean Paul). Und hier liegt vielleicht der Schlüssel zu diesem lebendigen, aber aufgrund der vielen negativen Erlebnisbeschreibungen auch manchmal ermüdenden Buch: Masson hatte keine gute Lehranalyse erfahren. Dadurch ist in ihm der Eindruck entstanden, dass es kaum Kommunikation von Herz-zu-Herz gibt.
„Wisdom, in this technical sense, is not all that difficult to come by. When you have read enough and been to enough case seminars, you know what is expected, what sounds profound, what gives comfort, what appears insightful even if it is not. So much of what I said came from my head, not from my heart. But if it had been any different, I would have been exhausted at the end of the day“ (S. 147).
„Weisheit, im technischen Sinne, kann man hier auf nicht allzu schwierigem Wege erlangen. Wenn du genug gelesen und genügend Fallseminare besucht hast, dann weißt du, was von dir erwartet wird, was tiefgründig klingt, was ein Wohlgefühl auslöst, was einsichtig erscheint, selbst wenn es das nicht ist. So viel von dem, was ich gesagt habe, kam aus meinem Kopf, nicht aus meinem Herzen. Aber wenn es anders gewesen wäre, wäre ich am Ende des Tages ausgelaugt gewesen.“
Und hierin findet sich wahrscheinlich ein „Missing Link“ bei Jeffrey Masson. Was aus dem Herzen kommt, ermüdet nicht, sondern gibt Kraft. Das ist jedoch vielleicht nur so zu spüren, wenn man als Analytiker selbst zuvor die Erfahrung machen konnte, dass die Lehranalyse für beide Beteiligte eine „Herzenssache“ war.
Psychoanalyse ist konfrontativ, oft hart und erschöpfend, voller negativer Übertragungen und sie wirkt durch das Setting und die Abstinenzregeln manchmal kalt, fast unmenschlich. Alles Unangenehme aus der Kindheit findet hier wieder Platz. Aber sie ist eben gleichzeitig auch freiheitsliebend, haltgebend, tröstlich, gefühlvoll, manchmal unheimlich und oft zutiefst warmherzig und liebevoll (siehe IPA-Kongress 2017 über „Intimität“). Möglicherweise ist die Entwicklung hin zur Intersubjektivität und zur resonanten Präsenz die größte Veränderung, die die Psychoanalyse in ihrer Entwicklung erlebt hat und die in diesem Buch noch nicht auftauchen konnte.
Masson hat sich schließlich den Tieren zugewendet und schreibt hierzu viele inspirierende Bücher, wie z.B. „The Dog Who Couldn’t Stop Loving“ (Goodreads).
„Was euch wirklich müde macht, ist nicht eure emotionale Beteiligung als Arzt, sondern euer ständiger Versuch, diese zu verhindern und euch abzugrenzen.“ (Zitat aus dem Kurs „Arzt und Patient im Rollenspiel“ bei Professor Peter Helmich (1930-2008), Allgemeinmedizin, Uni Düsseldorf, 90er Jahre)
klaus schlagmann
Siegfried Bettighofer und seine Beschwichtigung der Therapie-Kritik von Margarete Akoluth
https://oedipus-online.de/index.php/siegfried-bettighofer/
Dieser Beitrag erschien erstmals am 15.6.2017
Aktualisiert am 23.8.2022
„No memory, no desire, no understanding“ (nichts erinnern, nichts wünschen, nichts verstehen) – wenn es dem Psychoanalytiker gelingt, diese Haltung einzunehmen, kann er sich ganz auf das Hier und Jetzt der Analyse-Sitzung einlassen. Geprägt wurde der Begriff von Wilfred Ruprecht Bion (1897-1979). Doch in der Ausbildung zum Psychoanalytiker ist man häufig so angespannt, dass diese Haltung ein Ding der Unmöglichkeit zu sein scheint. Anstatt sich der Stunde abwartend und wunschlos hinzugeben, denkt der Ausbildungskandidat: „Ich muss dem Patienten doch jetzt eine kluge Deutung geben, damit er bei mir bleibt. Schweige ich schon zu lange? Was wohl der Supervisor dazu sagen wird? Wann der Patient wohl endlich dazu bereit sein wird, sich auf die Couch zu legen? Und wann war nochmal das nächste Gespräch mit der Bank?“
Fest steht: Diese Gedanken und Ängste lassen sich nicht ausschalten. So manche Analyse-Stunde ähnelt einer Meditation, in der man versucht, die negativen Gedanken irgendwie handzuhaben. Aufziehen und wieder gehen lassen? No way. Also bleibt einem manchmal nichts anderes übrig, als sich von diesem hohen Ideal zu verabschieden und sich mit seinen Ängsten und Sorgen näher zu befassen. „If you don’t have a stomach for anxiety, you’re in the wrong profession“, sagt die Psychoanalytikerin Edna O’Shaugnessy in dem Film „Encounters through Generations“.
Die Ängste, Sorgen und Abhängigkeiten sind da, die Regeln und Erwartungen ebenfalls. Es macht unzufrieden, wenn man mit dem Patienten immer nur unter Druck zusammen ist.
Es hilft vielleicht die grundsätzliche Einstellung, dass die Psychoanalyse-Ausbildung lange dauern kann – sehr lange. Die Geldsorgen mögen drücken, aber es lassen sich immer wieder neue Wege finden. „Schau nicht auf die Früchte“, höre ich meinen Yogalehrer sagen. In jeder Stunde gilt es, gute Arbeit zu leisten – so gut, wie es einem möglich ist. Irgendwann hält man auf einmal eine reife Frucht in der Hand und man ist völlig überrascht.
Wenn man das Ziel, Analytiker zu werden, nicht ständig anstarrt, dann kann man schon in der Ausbildung ein guter Analytiker sein.
Jede Psychoanalysestunde bringt einen weiter – sowohl die eigene Lehranalyse als auch die Patientenbehandlung und die Supervision. Das, was man dadurch gewinnt, geht nicht mehr verloren. Als Autorin denke ich manchmal: „Egal, was passiert: Ich kann ja darüber schreiben.“ Ähnlich ist es in der Psychoanalyse-Ausbildung: Hier geschieht nichts, was einen nicht persönlich weiterbringen würde.
„Wünsche dir alles, erwarte nichts und werde reich beschenkt“ – so heißt das Buch des Yogalehrers Sriram. Bücher wie diese können in der Ausbildung sehr inspirieren. Aus diesem Buch habe ich ein wenig diese Einstellung gewonnen: „Wenn ich sorgfältig arbeite und das mir Mögliche tue, dann werde ich sehen, wohin es geht.“ In der Ausbildung lernt man die persönlichen Schwächen kennen. So kann auch der Zweifel daran wachsen, ob man diesem Beruf überhaupt gewachsen ist.
Es gibt ein schönes Video der gehörlosen Schlagzeugerin Evelyn Glennie. Sie wurde zunächst nicht an der Musikhochschule angenommen. Sie sagt: „Ich konnte das nicht akzeptieren. An der Musikhochschule abgelehnt zu werden, nur, weil ich nicht hören kann, sah ich nicht ein.“ (TED-Talk 2007: Wie man hinhört)
Man kann das Zusammenspiel von Ausbildungssituation und der Haltung „no memory …“ als eine sportlich-geistige Herausforderung sehen. Es hilft dabei tatsächlich, das Meditieren zu üben. Es lässt sich immer wieder zurück zum eigenen Atem finden, auch, wenn der innere und äußere Aufruhr groß ist. Es entstehen immer wieder zutiefst befriedigende Stunden, die das Gefühl aufkommen lassen: Jetzt ist es gut so wie es ist.
Dieser Beitrag wurde erstmals verfasst am 17.5.2017
Aktualisiert am 21.8.2022
Irgendwann ist es so weit: Man darf Patienten behandeln. Jetzt braucht man also einen Praxisraum. Noch nicht approbierte Psychologen können in einigen Bundesländern nur einen Raum anmieten, der dem Ausbildungsinstitut oder einer Lehrpraxis angeschlossen ist. Es muss gewährleistet sein, dass im Notfall ein erfahrener Analytiker zur Verfügung steht. (Bild: Gabriele Mertens: „Stadtleben bewegen“)Weiterlesen