Nun ist es ein Jahr her, dass ich mir den Radius des linken Unterarms gebrochen habe. Die Bruchkanten waren ineinander verschoben und mussten eingerenkt werden. „Wir haben schon ein Bett für Sie auf Station“, hörte ich, denn die Fraktur müsse unbedingt operiert werden. Das Röntgenbild nach dem Einrenken (Reposition) sah zwar besser, aber „noch nicht befriedigend“ aus. Dennoch entschied ich mich, das Krankenhaus ohne Operation zu verlassen. Weiterlesen
Es gibt diese Tage: Da fällt uns gleich das Marmeladenbrot aus der Hand, das Kind verschläft, der Computer muckt, der Bus kommt zu spät. „Heute sind’se aber alle komisch drauf“, sagt die Nachbarin. Und man selbst denkt es auch. Es gibt sie anscheinend, diese „komischen Tage“. Manchmal kämpfen wir dagegen an, rennen mit dem vermeintlich kaputten Computer direkt zum Fachmann, ermahnen uns, uns zusammenzureißen, versuchen, das Wackelige doch noch festzuzurren. Aber es geht auch anders: Wir können bemerken, dass heute so ein „komischer Tag“ ist und uns ohne großen Aktionismus darauf einstellen.Weiterlesen
Gefühle, Gedanken und Erinnerungen hängen eng mit unserer Körperhaltung und Bewegung zusammen. Wenn wir in einer Körperhaltung sind, in der uns Schlimmes widerfahren ist, kann es uns auf einmal übel werden, ohne dass wir wüssten, warum. Vielleicht waren wir gerade viele Minuten in einer verkrampften Haltung, ohne es bemerkt zu haben. Wenn wir nachts etwas geträumt haben, kurz zur Toilette gehen und uns wieder in derselben Position hinlegen, die wir im Traum hatten, fällt uns der Traum wieder ein. Es ist, als hätten wir innerlich Sand, der sich wieder zur selben Sandburg formt, wenn wir dieselbe Körperposition einnehmen. Weiterlesen
Als Studentin hatte ich eine saftige Angststörung. Ich weiß genau, wie sich Panikattacken und frei flottierende Angst anfühlen und wie extrem schwierig es für mich war, Boden unter die Füße zu bekommen. Und dann höre ich in Fernsehsendungen, dass Angststörungen zwar extrem unangenehm, aber relativ gut zu behandeln seien. Autoren wie der Psychiater Borwin Bandelow (3SAT, Sternstunde Philosophie 2015) berichten davon. Doch wo finde ich Beschreibungen zu meiner Angst, die namenlos ist, wie Bion es nannte?Weiterlesen
Affekte könnnen wir leicht benennen: Wenn uns die Hutschnur hochgeht, spüren wir unsere Wut. Wir wissen zumindest für uns selbst, dass wir wütend sind. Unerwünschte Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken, ist schon schwieriger: In der engen Freundschaft möchte ich meinen Neid nicht spüren, doch ich kann lernen, ihn nicht gleich wegzuschieben. Trauer, Wut, Neid, Ekel, Angst und Freude sind Emotionen und Affekte, die wir oft leicht benennen können. Doch was sagst Du, wenn Du gefragt wirst: Was fühlst Du jetzt? Wie sollst Du beschreiben, was eigentlich ist, wenn „es“ wieder da ist, wenn Du Gefühle hast, die keinen Namen haben?
Oft leben wir einfach vor uns hin, doch zwischendurch nehmen wir sozusagen eine „Innenmessung“ vor (Danke an Walter von Lucadou, Parapsychological Association, für die Inspiration). Manchmal können wir sagen, was wir gerade fühlen, sehr oft aber auch nicht. So, wie die Inuits wohl sehr viele Worte für die vielen Arten von Schnee haben, so müssten wir eigentlich auch sehr viele Worte für die vielen Arten von Gefühlen in uns haben. Haben wir aber nicht.
„Ich fühle mich so tzzzzz!“, sage ich manchmal, wenn ich ganz merkwürdig angespannt bin. Diesen Ausdruck verdanke ich einem guten Freund im Studium, der mich vor einem Anatomiekurs einmal so beschrieb – dabei gestikulierte er so mit den Händen, als liefe Strom dort hindurch. Ich fühlte mich sehr gut verstanden – gleichzeitig beunruhigt ich es mich, dass ich trotz psychoanalytischer Ausbildung oft nicht anders kann, als zu sagen: „Ich fühle mich so tzzzz!“ Immer wieder legte ich mir das als eine Art Schwäche oder Gefühlsblindheit aus. Erst nach vielen Jahren konnte ich sagen: Das ist normal.
Wir haben nicht nur klassische, benennbare Gefühle, sondern auch Körper- und Seelenzustände, für die es keine Worte gibt. Natürlich wissen wir das – wir wissen, dass wir das Wortlose in der Kunst, in der Musik, in der Poesie finden. Und doch zweifeln wir vielleicht manchmal an uns selbst, wenn wir „schon wieder“ nicht sagen können, was wir eigentlich fühlen. Vielleicht hilft es, sich zu verdeutlichen, dass Gefühle immer auch mit Körperzuständen verbunden sind. Und diese können wir oft nur durch Bildbeschreibungen oder Laute verdeutlichen.
Wenn wir beschreiben wollen, wie sich eine volle Blase, ein Orgasmus oder eine Übelkeit anfühlen, dann können wir das eigentlich nur in Bildern tun: Es ist, als ob sich ein See zwischen Mauern ausbreitet, wenn unsere Blase voll ist. Es drûckt. Und so lassen sich auch unsere Traumbilder verstehen: Die Bilder drücken aus, wozu uns die Worte fehlen. Und wenn Du Dir das nächste Mal damit Druck machst, dass Du doch eigentlich sagen können müsstest, was Du fühlst, dann kannst Du Dich vielleicht damit beruhigen, dass das Nicht-Benennenkönnen eben allzu oft auch ganz normal ist.
Thomas Fuchs (2013):
Phänomenologie der Stimmungen
In book: Stimmung und Methode (2013, pp.17-31)
Mohr Siebeck, Tübingen
https://www.researchgate.net/publication/292964531_Phanomenologie_der_Stimmungen
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 15. November 2024
Aktualisiert am 8.1.2025
Heute muss sogar das Trauern schnell gehen – wir haben sonst Angst, wir könnten an einer „pathologischen Trauer“ oder gar Depression leiden. Alte Texte können da sehr hilfreich sein, zum Beispiel vom Schriftsteller Victor Hugo (1802-1885), der viel Leid erfuhr (übersetzt von Voos): „Nach dem Ertrinken seiner Tochter Léopoldine im Alter von 19 Jahren am 4. September 1843, publizierte Victor Hugo zehn Jahre lang nichts. Er wartete drei Jahre, bis er den Text ‚Einige Verse für meine Tochter‘ schreiben konnte (veröffentlicht im 4. Buch der „Kontemplationen“ von 1856). Youtube: Alain Deneux – De la souffrance de la perte à la construction de soi).Weiterlesen
Wir können vor Wut heulen oder tief-traurig schluchzen. Wir können leise in uns hieinweinen oder vor Angst wimmern. Sind wir überwältigt von Freude oder Schmerz, können uns ebenfalls die Tränen kommen. Je nach Art des Weinens reagiert auch unser Gegenüber: verunsichert, selbst traurig und tröstend, mitfühlend, schweigend oder genervt. Patholgisches Weinen bei schweren psychischen oder hirnorganischen Störungen erkennen wir in der Regel rasch – es ist mitunter monoton, unpassend und irritierend. Weinen vor Trauer setzt voraus, dass wir uns selbst als eigenständiges Wesen begreifen und Trennung erleben können. Wir weinen, wenn wir etwas oder jemanden verlieren. Mütter stellen manchmal einen Zeitpunkt fest, an dem das Schreien des Babys in ein Weinen aus Trauer übergeht.Weiterlesen