Es standen immer frische Blumen auf ihrem Tisch. Doch in ihrem Büro roch es nach altem Teppich. Die Fenster standen auf und Licht fiel hinein. Sie kam des Öfteren frisch vom Friseur und erzählte von ihren gelungenen Wellness-Wochenenden. „Man muss sich Gutes tun“, sagte sie immer. Doch fühlte man sich bei ihr seltsam unbehaglich. Je schöner sie sich selbst und ihr Zimmer machte, desto banger wurde einem ums Herz. Sie war eine Depressive. Ihre Bemühungen, alles schön und gut zu machen, waren nichts als ein großer Kraftakt, um die schwere Depression davon abzuhalten, sich wie ein dunkler Schleier über sie zu legen.
Dieser Beitrag erschien estmals am 16.1.2015
Aktualisiert am 14.6.2016
Es ist anstrengend. Das Kind, es schätzt den Alkoholpegel rasch und sicher ein. Zuverlässiger als jedes Messgerät. Es kennt die Anzeichen – die Dauer der Schlüssellochsuche, das Schmatzen und Schnalzen, den Verlauf der Zunge beim Sprechen. Es ist anstrengend. Das Kind, es dirigiert. Nach vorn geschaut und aufgepasst! Schau nach vorn, schau mich an, hör mir zu, bevor dir ein dreckiger Witz einfällt: Lass nur ja keinen Gedanken aufsteigen. Denn wenn es zu spät ist, ist es zu spät. Geh schön zu deinem Sessel und sieh zum Fernseher, damit ich hinter dir vorbeihuschen kann, bevor deine Hände tatschend suchen. Der Weg ins Zimmer, er ist geschafft. Hier bleibst du jetzt, denkt das Kind. Im Gefängnis. Beschützt vor der Außenwelt – immerhin.
Es hat die Haltung eines Soldaten eingenommen, das Kind. Immer die Form wahren, immer aufrecht stehen. Man muss sie alle erziehen, sonst laufen sie aus, die Männer, weiß das Kind. Es hält die Luft an. Schnellen Schrittes geht es an Männern vorbei. An jedem Mann. Jedem einzelnen.
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 1.4.2016
Das Kind, es fordert die Mama auf. Es interessiert sich fürs Smartphone. Es zieht am Telefonkabel. Es unterbricht die Lehrerin. Wir unterstellen ihm etwas Böses: Es stört. Es muss lernen, dass es nicht alles haben kann. Es muss verstehen, dass das Leben kein Wunschkonzert ist. Es muss einsehen, dass sinnlose Hausaufgaben gemacht werden müssen. Komisch: Bei Hunden ist es allgemein bekannt. Bei Kindern nicht: Sie wollen doch nur spielen. (Text: Dunja Voos, Bild: Julia)
Das Ei wird angepiekst. Es läuft aus. Es schrumpft, verschwindet. Neuer Versuch. Das Ei wird angepiekst, die Samenzelle findet hinein. Beide bekommen einen Schrecken. Es findet eine Befruchtung statt. Und eine Zerstörung. Die Samenzelle ist weg. Das Ei in seiner Ur-Form ist weg. Die Samenzelle sieht die Eizelle nicht, die Eizelle sieht die Samenzelle nicht. Beide haben ihre Identität verloren. Es ist etwas Neues entstanden: Ein Ungeheuer?
Zweimal 16 Stunden Hypnose stehen auf dem Pflichtplan für den Zusatztitel „Psychotherapie“. Anmeldung zum Kurs. Samstag, Sonntag – ein Platz ist noch frei. Zwei Familien müssen organisiert werden zur Betreuung des Kindes – eine für Samstag, eine für Sonntag. Mitte der Woche ist es geschafft. Das Kind bemerkt mütterliches schlechtes Vernachlässigungsgewissen. Blinzelt sich Kinder-Zeitschrift herbei. Familie Eins sagt kurzfristig ab. Hektisch wird der neue Babysitter gefunden. Freundin X ruft verärgert an – das Kind habe wohl versehentlich einen Doppeltermin vereinbart – Freundin X stehe für Weiteres leider nicht mehr zur Verfügung. Freitag-morgens kündigt das Kind Ohrenschmerzen an. Schnell noch Musikunterricht und Tanzauftritt am Abend absagen. Gesundbleiben ist das höchste Ziel. Verspüre Übelkeit. Schnell eine Cola und etwas hinlegen.Weiterlesen
Er war klein, der Raum, und eng. In so einem Raum wurde er immer wieder überfallen und gequält. Als Kind. Heute ist er erwachsen. Doch wenn er zum Gespräch muss in den dritten Stock, fühlt er sich hilflos. Er kann nicht mehr denken, reagiert in Angst. Seine Fähigkeit zu mentalisieren ist weg. Doch ist sie an den Ort gebunden. Beide nehmen ihre Stühle und setzen sich aufs freie Feld. Um sie herum die frische Luft. Und das Mentalisieren wird möglich, weil die Angst, überfallen zu werden, in die Weite entschwunden ist.
Irgendwann war alles weg. Er war weg. Sie waren weg. Das Haus meiner Kindheit: weg. Die Badestelle meiner Kindheit: weg. Alles, was mir lieb und teuer war: weg. Doch dann ein Traum: Wieder in der Gegend der Felder meiner Kindheit. Die Möglichkeit, das Haus meiner Kindheit zurück zu bekommen. Doch ein Mann sagt: „Du brauchst nicht das Haus. Du brauchst das Gefühl, das du damit verbindest.“ Ich habe nicht nur den einen Menschen vermisst, sondern das Gefühl, meine Hand in eine andere zu legen. Nicht nur das eine Haus, sondern das Gefühl, in der alten Gegend zu sein, in einer ähnlichen Gegend zu sein, ähnliche Düfte zu wahrzunehmen, ähnliches Licht zu sehen. Das Wasser, in das ich steige: Es riecht so ähnlich und sieht so aus, wenn Regentropfen darauf fallen, wie das Wasser, das ich aus meiner Kindheit kenne.
Zuhause.
Bilder von Müttern aus der ganzen Welt gehen mir durch den Kopf: Egal, wie die Gesichter der Mütter und Kinder aussehen: Das Gefühl der Mutterliebe spiegelt sich in jedem Bild wieder. Es fühlt sich immer gleich an. Einzigartig. Einzigartigkeit ist so wertvoll. Doch Einzigartigkeit kann verschieden aussehen. Manchmal hängen wir am Einzigartigen und schaffen es nicht, uns zu lösen, weil wir nicht verstanden haben, dass noch etwas anderes einzigartig sein kann, aber universeller ist: das Gefühl. Die alten oder ähnlichen Düfte, die alten oder ähnlichen Gefühle – ich finde sie überall in der Welt wieder. Ich kann überall hingehen und wenn ich Orte, Menschen, Berührungen finde, in denen sich das vertraute Gefühl so oder ähnlich wieder einstellt, bin ich zu Hause.