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Depression und Neuroplastizität (Buchtipp)

Depressionen können unter anderem durch starke emotionale Erfahrungen wie Trennung, Gewalt und Verlust entstehen. Sind depressive Verarbeitungsweisen erst einmal im Gehirn verankert, dann ist es mitunter ein langer Weg, bis der Betroffene die Welt wieder anders wahrnehmen und Geschehnisse neu verarbeiten kann. Zur Depressionsentstehung und Behandlung gibt es viele Sichtweisen, doch einige Theorien lassen sich miteinander verbinden: Die Erkenntnisse der Neurowissenschaften und der Psychoanalyse nähern sich an. Ein kompakte Zusammenschau liefert das Buch von Marinne Leuzinger-Bohleber und Kollegen: „Depression und Neuroplastizität“, 2010 erschienen bei Brandes und Apsel.

Das Gehirn verändert sich besonders dann, wenn der Mensch gefühlsbetonte neue Erfahrungen macht. Das ist in der Neurowissenschaft heute eindeutig belegt. Daher versuchen Pädagogen heute auch, das Lernen möglichst mit Erfahrungen zu verbinden.

Neurowissenschaft und Psychoanalyse können einstimmig sagen: „Nachhaltige Veränderungen bei der Depression sind nicht durch kognitive Einsichten zu erzielen“ (Seite 2). Bei Depressionen reicht es also oft nicht aus, „umzudenken“ oder „umzubewerten“. Neue Erfahrungen müssen her, damit neue Verarbeitungswege möglich werden (wobei wahrscheinlich beide Wege möglich sind: durch das „Umdenken“ werden neue Erfahrungen gemacht und durch neue Erfahrungen kann man Neues denken). In einer psychoanalytischen Therapie machen die Betroffenen neue gefühlsmäßige Erfahrungen. So kann der Weg aus der Depression gefunden werden.

Und was ist mit den Medikamenten?

Der Kölner Psychiater und Psychoanalytiker Frank Matakas (1939-2021, DDPP) schreibt in seiner Rezension: „Ohne dass es eine explizite Theorie zur Entstehung und Therapie der Depression brauchte, zeigt dieses Buch, dass mit einer medikamentösen Behandlung allein, wie es an vielen psychiatrischen Kliniken noch üblich ist, auch nicht entfernt das Problem der Depression angegangen werden kann. Insofern ist es (das Buch) der armseligen Realität vieler psychiatrischer Kliniken um Welten voraus“ (PSYCHE – Z Psychoanal 64 (2010): 978).

Die Pharmaindustrie, so schreibt der Wiener Psychoanalytiker Georg Fodor in seiner Rezension, hat durch ihr Marketing allerdings dazu beigetragen, allgemein deutlich zu machen, dass die Depression eine „ernstzunehmende und behandlungswürdige Krankheit“ ist (PSYCHE – Z Psychoanal 64 (2010): 980). Auch Medikamente können vielen Patienten helfen. Doch Georg Fodor wundert es, dass „öffentliche Gesundheitseinrichtungen“ die Behandlung mit Medikamenten so stark in den Vordergrund stellten, wohingegen das Interesse an psychoanalytischen Behandlungen recht gering sei.
Insofern sei es sicher gut, dass die MRT-Bilder so manche Vermutung der Psychoanalyse bekräftigten.

Links:

Leuzinger-Bohleber, Marianne, Klaus Röckerath und Laura Viviana Strauss (Hg.):
Depression und Neuroplastizität
Psychoanalytische Klinik und Forschung
Frankfurt am Main, Brandes & Apsel 2010
Amazon

Eine Buchbesprechung von Georg Fodor (Psychoanalytiker, Wien)
PSYCHE – Z Psychoanal 64 (2010): 978-989,
zu finden über die Website des Sigmund-Freud-Instituts

Technik trifft Neuropsychoanalyse
Pressemeldung der Technischen Universität Wien, 2007

Harold Searles: Der psychoanalytische Beitrag zur Schizophrenieforschung (Psychose-Serie 15)

Die „Collected Papers on Schizophrenia and Related Subjects“ des Psychoanalytikers Harold F. Searles (1918-2015) wurden erstmals im Jahr 1965 veröffentlicht. 2008 legte sie der Psychosozial-Verlag neu auf: Das Buch „Der psychoanalytische Beitrag zur Schizophrenieforschung“ ist 275 Seiten stark, eng bedruckt und herrlich gemütlich. Es wurde mit großer Sorgfalt aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Die Sprache stammt ungewohnterweise aus der Zeit vor dem Internet. Man kann schmunzeln, wenn man Formulierungen wie diese liest: „so aber dünkt es mir völlig natürlich …“ (S. 84). Erholsamerweise gibt es keine Info-, Merkkästen oder sonstige Marginalien. In aller Seelenruhe und höchst präzise beschreibt Searles seine Arbeit mit schizophrenen Patienten. Gänzlich unaufgeregt, sehr nüchtern und logisch erklärt er, wie das „Verrücktsein“ entstehen und wie die psychoanalytische Behandlung helfen kann. (Text: © Dunja Voos, Bild: © Psychosozial-Verlag) Weiterlesen

Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik OPD und OPD-Achsen

Die Diagnosestellung bei psychischen Störungen ist oft nicht leicht. Da gibt es zwar das Kapitel V der ICD 10 (F0-F99 Psychische und Verhaltensstörungen, International Classification of Diseases) oder das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Diseases), doch die „Depression“ von Patient A lässt sich oft nur wenig mit derjenigen von Patient B vergleichen. Mit der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD) hingegen lassen sich psychische Störungen schon genauer beschreiben. Das Handbuch OPD-3 ist 2023 in der ersten Auflage im Hogrefe-Verlag erschienen. Siehe auch: OPD-online.net.Weiterlesen

Unerklärliche Beschwerden? (Buchtipp)

Rückenschmerzen, steifer Nacken, Ischiasbeschwerden? Dann müssen Sie unbedingt Helga Pohls Buch über „Unerklärliche Beschwerden“ lesen. Die Autorin und Psychoanalytikerin erklärt sehr einleuchtend, wie dauerhaft angespannte Muskeln und angespanntes Bindegewebe viele Beschwerden aufrecht erhalten können. Dabei bringt es oft nichts, die „Muskulatur zu stärken“ oder sie zu dehnen. Helga Pohl entwickelte nach eigenen leidvollen Erfahrungen mit einem Bandscheibenvorfall die „Sensomotorische Körpertherapie“. „Du musst die Rückenmuskulatur stärken“ – diesen Satz hören Rückenschmerzpatienten nur allzu häufig. Sie merken aber oft gleichzeitig, dass das allein nicht hilft.

Viel wichtiger sei es, ein Gespür für den Körper zu bekommen.

Welche Bewegungen tun gut? Welche Bewegungen sind leicht? Wo manifestieren sich meine Gefühle? Mit diesen und ähnlichen Fragen hat sich die Autorin und Körpertherapeutin Helga Pohl lange beschäftigt. Unsere Gefühle schlagen sich auch in unserem Körper nieder. Helga Pohl fragt ihre Patienten zum Beispiel: „Wo spüren Sie Ihre Angst?“ Vielleicht sitzt die Angst im Nacken, vielleicht aber auch im Bauch. Meistens lässt sich nach Meinung der Autorin jedenfalls eine Region festmachen und auch behandeln.

„Du bist da ja total verspannt! Lass doch mal locker.“ Wer kennt solche Sätze nicht? Doch wir merken: Das ist kaum möglich, denn unser Gehirn scheint auf die verspannten Muskeln keinen bewussten Zugriff mehr zu haben. Helga Pohl stellt in ihrer körperzentrierten Therapie die Verbindung wieder her, so dass es irgendwann gelingt, die Verspannungen wieder zu lösen.

Viele Wege führen nach Rom

Häufig würden die Patienten mit ihrer langen Schmerzgeschichte einfach als „psychosomatisch“ abgestempelt und keine weitere Hilfe erfahren, so Helga Pohl in ihrem Buch. Dabei seien zum einen die Beschwerden häufig in der Tat körperlich bedingt. Die Ursachen lägen in der Muskulatur und im Bindegewebe. Zum anderen ließen sich aber auch psychische Spannungen durch eine geeignete Körpertherapie lösen. Der Körper ist der Spiegel unserer Seele, aber auch körperliche Beschwerden können unsere Seele leiden lassen. Leicht entsteht die Frage nach Henne oder Ei. Doch Teufelskreise lassen sich durchbrechen, indem die Therapie einfach an einem Punkt ansetzt: Wirksam kann sowohl die Behandlung der Henne als auch des Eis sein.

Unerforschtes Bindegewebe

Helga Pohl hat sich nach eigenen leidvollen Erfahrungen selbst an eine von ihr entwickelte Therapieform herangetastet. Dabei spielte auch die Methode von Moshe Feldenkrais eine große Rolle. Die Feldenkrais-Methode bildet einen guten Übergang zwischen Psycho- und Körpertherapie.

Der Physiker Feldenkrais lehrte, wie Bewegungen weich, leicht und geschmeidig werden.

Doch Helga Pohl blieb hier nicht stehen, sondern beschäftigt sich insbesondere auch mit dem Bindegewebe. Rasch könne sie Knötchen im Bindegewebe ertasten, dort, wo die Patienten Schmerzen angeben. Durch eine Bindegewebsmassage könnten sich viele Störungen wie Schmerzen oder auch Lähmungen lindern lassen. Doch Helga Pohls Therapie ist mehr als Feldenkrais und Massage. Sie erklärt:

„Das Besondere sind die Pandiculations nach Thomas Hanna und die Überwindung der sensomotorischen Amnesie. Und es ist das Körperbewusstseinstraining, die angewandte funktionelle Anatomie und die Übertragung des ganzen auf jedermanns Alltag. So dass man selbst erkennen kann, was man tut, wo man unwillkürlich festhält, so dass man die Beschwerden bekommt. Neu ist auch, dass man selbst aktiv werden kann. Das macht die Ergebnisse so haltbar und die Patienten schlauer und selbständiger.“

Anregend

Das Buch ist eine wunderbare Anregung für viele Patienten mit chronischen Beschwerden „ohne Befund“. Die Autorin schreibt mit großer Begeisterung und wer gerade selbst leidet, ist versucht, sich ins Auto zu setzen und direkt in ihre Praxis zu fahren. Doch es gibt keine Wundermittel. Das sollte sich der Leser nochmal verdeutlichen, bevor er sich von der Begeisterung allzu sehr mitreißen lässt.

Wer sich persönlich von der Autorin behandeln lassen möchte, findet ihre Praxis in Starnberg-Percha bei München. Eine Therapeutenliste mit Therapeutenadressen in Ihrer Nähe finden Sie auf der Website der Autorin. Helga Pohl bietet außerdem Lehrgänge in „Sensomotorischer Körpertherapie“ für Therapeuten an.

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Emotionelle Erste Hilfe (Buchtipp)

Das Buch „Emotionelle Erste Hilfe“ kann ich Eltern von Schreibabys sehr empfehlen. Der Autor und Körperpsychotherapeut Thomas Harms beschreibt einfühlsam, welche Ursachen hinter dem exzessiven Schreien eines Babys möglicherweise stecken. Er zeigt, wie hilflos sich die Eltern fühlen, aber auch, wie sie mithilfe der „Selbstanbindung“ und bewussten Atmung neue Kraft schöpfen können.

„Kriegsenkel“ – ein erhellendes Buch

Wenn Diskussionen über die Nazi-Zeit aufkommen, sind die Gemüter erhitzt. Manche sagen: „Das muss doch jetzt mal endlich Vergangenheit sein.“ Viele spüren aber, dass es für sie in einer eigentümlichen Weise doch nicht Vergangenheit ist. Die heute 35- bis 50-jährigen Kriegsenkel tragen häufig noch eine große „Kriegslast“ mit sich herum, ohne dass es ihnen bewusst ist. Sabine Bodes „Kriegsenkel“ bringt hier Licht in die unerklärlichen Gefühle der Betroffenheit.Weiterlesen

Frühe Kindheit als Schicksal? (Buchtipp)

Die Psychoanalytikerin Marianne Leuzinger-Bohleber, ehemalige Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts Frankfurt, hat ein beeindruckendes Buch über die psychische Entwicklung des Kindes geschrieben. Das Buch Frühe Kindheit als Schicksal macht deutlich, wie komplex die kindliche Entwicklung verläuft und wie unsagbar wichtig die enge Beziehung zu den Eltern und anderen Bezugspersonen ist. Leuzinger-Bohleber beschreibt, wie Kinder Gefühle lernen und woran die Entwicklung vieler Kinder scheitert. Dieses Buch zeigt aber auch, dass psychische Störungen wie z. B. das Aufmerksamkeitsdefizit-Hpyeraktivitätssyndrom (ADHS) kein genetisches Schicksal sind. Viel zu häufig wird von einfachen Stoffwechselstörungen ausgegangen, ohne die Situation des Kindes weiter zu hinterfragen. Dabei verdeutlicht dieses Buch anhand von Therapieverläufen, dass hinter der Diagnose ADHS oft problematische Familienverhältnisse stehen. Das Fallbeispiel von Max zeigt, wie eine psychoanalytische Therapie bei ADHS gelingen kann (S. 171-172).

Erzählen statt Messen

Dass die Möglichkeiten der Psychoanalyse relativ selten zur Sprache kommen, liegt unter anderem daran, dass die Wissenschaft auch in Bezug auf die Psychotherapie alles „messen“ will. Vieles lasse sich bei psychischen Vorgängen jedoch nicht messen, sondern eher erzählen, so die Autorin. Durch Einsichten und emotionale Erfahrungen verändern sich die Kinder in der Therapie. Vieles lässt sich jedoch kaum messen, sondern eben nur beschreiben. Marianne Leuzinger-Bohleber gibt in ihrem Buch viele Antworten auf Fragen, die häufig gestellt werden – beispielsweise erklärt sie, wie Aggressionen bei Jugendlichen entstehen und auf welchen Ebenen Kinder und Familien erreicht werden können, um destruktivem Verhalten, Hyperaktivität oder Depressionen vorzubeugen. Dabei ist die Sprache recht kompliziert, so dass sich dieses Buch wohl eher an hochspezialisierte Fachleute richtet.

„Fonagy und seine Mitarbeiter definieren Mentalisierung in der Folge einer philosophischen Tradition, die von Brentano (1973/1874), Dennett (1978) und anderen begründet und als eine Form vorbewusster imaginativer mentaler Aktivität verstanden wurde, in deren Rahmen menschliches Handeln in Begriffen von ‚intentionalen‘ Geisteszuständen gedeutet wird.“ (S. 113)

Solch ein Satz kann sogar für Experten schwierig sein. Wünschenswert wäre es, dasselbe Buch noch einmal in einer Sprache herauszubringen, die von jedem verstanden wird. So könnten auch Erzieher, Lehrer und Eltern von dem breiten und höchst interessanten Wissen profitieren, das in diesem Buch steckt.

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Buch:

Marianne Leuzinger-Bohleber
Frühe Kindheit als Schicksal?
Trauma, Embodiment, Soziale Desintegration.

Psychoanalytische Perspektiven.
Mit kinderanalytischen Fallberichten
von Angelika Wolff und Rose Ahlheim
Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2009

Versuchung des Bösen (Buchtipp)

Aggression ist nichts Schlechtes. Eine Abgrenzung, ein „Nein, das will ich nicht“, ist schon eine Form der Aggression, die wir täglich leben und die wir brauchen. Doch pathologische Aggression und Gewalt müssen in dieser Welt nicht sein. Über sein neues Buch „Versuchung des Bösen“ sprach der Wiener Psychoanalytiker und Autor Hans-Otto Thomashoff mit Moderator Achim Schmitz-Forte in der in der WDR5-Redezeit am 5.3.2010. Weiterlesen