Säuglinge suchen den Blickkontakt zu Mutter und Vater und sind völlig verzweifelt, wenn dieser nicht adäquat erwidert wird. Eine ständige Nicht-Passung zwischen Mutter und Kind, frühe Trennungen nach der Geburt oder größere medizinische Behandlungen als Baby lösen wahrscheinlich das Gefühl aus, unverbunden zu sein. Wir ziehen uns auf uns selbst zurück, wenn alle Welt uns abzulehnen scheint. Wir alle haben frühe psychische Verletzungen erlebt und daher gesunde und weniger gesunde narzisstische, also selbstbezogene, Anteile in uns. Wenn wir Angst haben, erneut Verlassenheitsgefühle zu spüren, dann behelfen wir uns, indem wir versuchen, den anderen zu kontrollieren. Weiterlesen
„Die Ärztin hat mir sofort Opipramol verschrieben – soll ich das nehmen?“, fragt mich die Patientin. Ich rate ihr, nach ihrem Gefühl zu gehen. Wenn Du in einem ähnlichen Dilemma steckst, ist es wichtig, über die Medikamentenfrage nachzudenken und dem zu folgen, was Dir selbst behagt. Vielleicht fühlst Du Dich vom Arzt zur Einnahme des Medikaments gedrängt, vielleicht bist Du ihm aber auch dankbar für die Verordnung. Oft hilft das Neue – die neue Idee, das neue Medikament. Doch sobald es älter und vertrauter wird, geht die Begeisterung mitunter zurück. Weiterlesen
„Es ist dann, als wäre ich eine leere Hülle. Um mich herum die Welt erscheint mir fremd und ich selbst fühle mich, als könnte mich niemand mehr verstehen. Ich könnte noch zum Telefon gehen, um den Notarzt zu rufen, aber die Menschen würden nicht kapieren, was mit mir los ist. Getröstet und verstanden zu werden ist unvorstellbar. Ich habe Angst, dass Rettungssanitäter mich zwingen würden, mitzukommen und mir alles Mögliche verabreichen würden. Es gibt in meiner Vorstellung im Moment der Panikattacke keine Hoffnung, keine Beruhigung, keine Berührung und keine Verbindung. Da ist nur Leere ohne Halt.“Weiterlesen
Das Gefühl der „Brüchigkeit“ ist vielen Menschen mit einer Borderline-Störung bekannt. Oft war die frühe Mutter-Kind-Kommunikation bereits gestört (siehe Beatrice Beebe: Decoding the nonverbal language of babies, Youtube, 2019). Viele hatten wenig einfühlsame Eltern. In vielen Familien ging es laut zu, es wurde geschrien, es herrschte Chaos und Hysterie, die Sprache war wenig differenziert, es gab vielleicht Alkoholismus, sexuelle Übergriffe sowie psychische und körperliche Gewalt. Die Eltern konnten vielleicht kaum über sich selbst und ihr Kind nachdenken – sie waren hoch gestresst.
Ein hoher Bildungsgrad kann psychische Schwäche teilweise ausgleichen, doch die bleibt vielen verwehrt. In einer extrem unsicheren Umgebung aufzuwachsen, ist für ein Kind meistens eine furchtbare Erfahrung. Es fühlt sich psychisch stark verunsichert und lebt in chronischer Angst. Als Erwachsene leiden die Betroffenen oft unter heftigen Angststörungen und dem Gefühl, sich auf niemanden verlassen zu können.
Instinktiv halten sich viele Betroffene an gebildeten, psychisch reifen Menschen fest. Die eigene fehlende innere Struktur kann durch die Struktur eines Gesünderen zumindest etwas „aufgefüllt“ werden. Wenn wir mit Menschen zusammen sind, die ruhig, gebildet und besonnen sind und die versuchen, uns zu verstehen, hat dies oft eine beruhigende Wirkung auf uns. Wenn Menschen mit einer Borderline-Störung in die Psychiatrie kommen, kann das für sie eine psychische Katastrophe sein: Die „niedrige Struktur“ der anderen Patienten, die psychisch äußerst schwach sind, reißt die Betroffenen quasi mit herunter. Oftmals ist die Angst vor dem Benutzen öffentlicher Verkehrsmittel eng verbunden mit der Angst, vielen psychisch schwachen Menschen zu begegnen.
Wenn wir uns brüchig fühlen und mit psychisch sehr schwachen Menschen zusammen sind, können wir das Gefühl haben, sie stecken uns mit ihrer Brüchigkeit an und verschlimmern unser bodenloses Gefühl.
Kaum etwas ist für viele Borderline-Patienten wichtiger, als mit „guten Menschen“ zusammen zu sein. Und tatsächlich hat dies oft eine nachhaltig positive Wirkung, denn stärkere Menschen können wir als „gute innere Objekte“ aufnehmen. Dieser Vorgang ähnelt dem „Lernen am Modell“: Wenn wir an Vorbilder denken und uns so verhalten wie sie, dann ist es für uns fast, als wären wir ein bisschen (wie) diese Vorbilder. Eine Psychoanalyse kann hier besonders hilfreich sein, denn der Therapeut selbst wird zu dem Menschen, der zunächst außen Halt bietet und dann als „haltgebendes inneres Objekt“ in die Psyche mit aufgenommen wird. Doch auch aus eigener Kraft erlangen viele mehr inneren Halt, indem sie interessiert bleiben an sich selbst und sich gute Wege und Umgebungen suchen.
Ausschau halten nach Bildungsmöglichkeiten und nach Menschen, die uns gut tun und die uns die eigene Entwicklung ermöglichen, ist mit das Wichtigste auf unserem Weg zu mehr innerer Sicherheit und Ruhe.
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 10.11.2017
Aktualisiert am 23.6.23
Der Psychoanalytiker Wilfred Ruprecht Bion (1897-1979) nannte noch unverarbeitete Teile in der Psyche „Beta-Elemente“ und reifere Stücke „Alpha-Elemente“. Wenn wir mit unseren Sinnen etwas wahrnehmen – seien es Eindrücke aus unserem Körperinneren oder Reize von außen – entsteht erst einmal so etwas wie ein unreifes Gefühl. Da ist irgendwie was, aber wir können es noch nicht klar denken. Dieses Gefühl von „Irgendwie-Etwas“ könnte man als Beta-Element bezeichnen. Besonders Säuglinge sind wahrscheinlich häufig überwältigt von „Beta-Elementen“, also nicht handhabbaren Eindrücken und Gefühlen.Weiterlesen