Mut zur natürlichen Geburt
Auch, wenn oft von der „sanften Geburt“ die Rede ist – eine Entbindung verläuft nicht „sanft“, sondern in der Regel „gewaltig“. Zudem ist die Entbindung eine große Konzentrations-Arbeit. Egal, wie die Geburt verläuft: Die Frau arbeitet und braucht dazu Ruhe. Jeder Schwangeren, die sich eine selbstbestimmte Geburt wünscht, kann ich das Buch Die Hebammensprechstunde von Ingeborg Stadelmann empfehlen. Die Autorin ist selbst Hebamme und beantwortet einfühlsam zahlreiche Fragen, die sich schwangere Frauen stellen.
Geburtsvorbereitung
Jede Frau weiß, was sie tun muss, wenn sie ein Kind bekommt. „Dazu muss sie nicht lesen und nicht schreiben können“, sagt Hebamme Monika Brühl aus dem Geburtshaus Bonn. Eigentlich braucht sie dazu auch keinen Vorbereitungskurs. Und dennoch kann ein guter Vorbereitungskurs die halbe Miete sein. Gute Vorbereitungskurse finden Schwangere in Geburtshäusern. Denn Geburtshäuser arbeiten ohne Ärzte und ohne Betäubung. Daher wird Wert auf eine gute Vorbereitung gelegt und es kommen viele Dinge zur Sprache, die im Krankenhaus oft nicht so benannt werden. Auch, wer in einem Krankenhaus entbinden möchte, kann einen Vorbereitungskurs in einem Geburtshaus besuchen.
Vom Tönen und Stöhnen
Schmerzen wollen „kanalisiert“ werden. Ein wunderbarer Weg von der ersten Wehe an ist das Tönen. Das kann man vor allem in Geburtshaus-Kursen und bei Hebammen lernen. So albern man sich vorkommen mag, in diesem Kurs die „UUUUuuuhs“ und „Aaaahs“ zu tönen, so froh ist man über dieses Handwerkszeug, wenn es los geht. Denn meistens entfallen dann alle Hemmungen. Gerade in der Eröffnungsphase, also wenn sich der Muttermund die ersten Zentimeter öffnet, ist es das Tönen ein wunderbares Instrument, um mit dem Schmerz umzugehen. Wer sich schämt, sollte mit dem Partner darüber reden oder darum bitten, allein zu sein.
Ungestörtsein
Eine Entbindung ist eine intime Situation. Und sie ist ein „Ausscheidungsvorgang“. Jede Störung, und sei sie auch noch so klein, stört den Vorgang der Entbindung. Es ist ähnlich wie beim Sex oder beim Toilettengang: Wer gestört wird, bei dem geht es zunächst nicht weiter. Wenn Hebammen oder Ärzte hektisch den Geburtsraum betreten und ihn wieder verlassen oder wenn sie – häufig überflüssige – vaginale Untersuchungen vornehmen, dann kann die Eröffnungsphase zum Stillstand kommen. Dann braucht die werdende Mutter schon einmal den Mut, um Ruhe zu bitten. Eine Frau in den Wehen benötigt eine eigene „Höhle“, in die sie sich zurückziehen kann, um in Ruhe „zu eröffnen“.
Der Partner
In Geburtsvorbereitungskursen im Geburtshaus lernt der Mann: Während der Wehen sollte er nicht mit der Frau sprechen. Oft fühlt sich der Partner hilflos. Aber er hilft der Frau dadurch, dass er da ist und schweigt. Oft ist es auch gut, wenn er gar nicht dabei ist. Eine Zeitlang war es so in Mode, dass die werdenden Väter mit in den Kreissaal kamen, dass viele Männer traumatisiert wieder dort herauskamen. Und umgekehrt: Wenn eine Frau im Vorhinein oder während der Geburt merkt, dass der Partner sie stört, dann sollte sie den Mut haben, ihn wegzuschicken. Es ist hilfreich, vorher über so eine Situation mit dem Parnter zu sprechen. Und keine Angst: Gerade die Tage vor einer Entbindung können wie ein aufkommendes Gewitter sein: Streitereien mit dem Partner sind dann keine Seltenheit. In diesen Tagen wird sogar die Partnerschaft infrage gestellt. Das Paar bereitet sich auf die neue Rolle vor.
Feste Bezugsperson – die Geburtsbegleiterin
Frauen, die eine feste Bezugsperson während der gesamten Entbindung haben, sind oft zufriedener mit dem Geburtserlebnis. In Geburtshäusern lernt die Schwangere „ihre“ Hebammen gut kennen, so dass sie weiß, wer da die ganze Zeit an ihrer Seite sein wird. Wird eine Hebamme krank, kann die Schwangere immer noch sicher sein, die andere bereits gut zu kennen. Eine Lösung kann auch eine Geburtsbegleiterin, eine sogenannte Doula, sein. Doula und Schwangere lernen sich während der Schwangerschaft kennen. Geht es los, kommt die Doula zur Geburt und begleitet die Frau bis zum Ende der Entbindung. Etwa 400 Euro kostet es, sich von einer Doula begleiten zu lassen. Das kann besonders sinnvoll sein in Krankenhäusern, in die man „seine“ Hebamme nicht „mitnehmen“ darf.
Die Schmerzen
Die Schmerzen während einer Geburt sind „die Hölle“. Es ist weniger der Druck auf der Scheide, der schmerzt, als der Druck im gesamten Bauch, ja im gesamten Körper. Der Schmerz „überkommt“ die Frau. Man sagt, die Frau ist „unter“ der Geburt. Sie ordnet sich dem Geschehen unter. Wenn die Geburt mit Durchfall oder Erbrechen beginnt, ist das oft ein gutes Zeichen, denn es zeigt, dass die glatte Muskulatur in Gang kommt und somit auch die Geburt gut auf dem Weg ist. Immer wieder gibt es Pausen zwischen den Wehen, die kurz Zeit zur Erholung bieten. Während der Entbindung entstehen schmerzlindernde Endorphine. Die Frau kann sich so ganz auf die Entbindung konzentrieren. Das Erleben während der Geburt kann ganz gespalten sein. Während sich die werdende Mutter bewusst ist, dass sie Schmerzen hat und schreit, merkt sie auf einer anderen Ebene, dass sie ganz klar ist und denkt: „Was sollen wir heute kochen? Ob morgen das Wetter schön ist?“. Sie geht somit innerlich „auf Abstand“.
„Ich will sterben“ – Die Übergangsphase
Irgendwann kommt fast jede Frau während der Entbindung zu dem Punkt, an dem sie sagt: „Ich will sterben.“ Manche schreien auch um Hilfe, sie rufen nach der Polizei oder sagen: „Ich gehe jetzt nach Hause, mir reicht es.“ Das ist der Höhepunkt der Geburt. Es ist die Phase, in der der Muttermund sich von 8 auf 10 cm öffnet. Das ist richtig „fies“. Viele Frauen wollen genau dann doch noch eine Periduralanästhesie (PDA). Doch im Vorbereitungskurs sollte die Frau auf diese Situation vorbereitet werden. Gemessen an der Geburtsdauer ist dies nur eine relativ kurze Zeit. Es ist quasi der Schmerz kurz vor Erreichen des Gipfels. Frauen, die diesen Zeitpunkt bei sich bemerken, können trotz dieses Gefühls denken: „Bald ist es geschafft.“
Eingriffe in den Geburtsverlauf
Wann immer Ärzte in den Geburtsverlauf eingreifen, hat dies zwei Seiten: Zunächst kann der Eingriff erleichtern. Aber kurz später zeigen sich auch die Nachteile eines Eingriffs. Werden beispielsweise Wehenhemmer verabreicht, werden später manchmal wieder wehenfördernde Mittel gegeben. Sie bewirken einen unangenehmeren Schmerz als die natürlichen Wehen, weil sie quasi von Null auf Hundert gehen und oft auch keine Pausen mehr zulassen. Eine PDA beispielsweise kann den Geburtsverlauf verlangsamen oder auch zum Stillstand bringen. Bei manchen Frauen führt die PDA später zu Kopfschmerzen, die nur durch tagelanges Liegen wieder gebessert werden können. Viele Frauen fühlen sich durch die Kanüle in der Hand oder durch den Wehenmesser am Bauch „behindert“. Sie können sich unter der Geburt nicht so frei bewegen. Es ist viel angenehmer, auf diese Dinge, die bei gesunden Schwangeren in der Regel gar nicht notwendig sind, zu verzichten. So kann die Frau in Ruhe ihre Geburtsposition finden. Viele Frauen entscheiden sich für den Gebärhocker. So kann die Schwerkraft mitwirken und das Kind kann leichter herausgepresst werden.
Leben mit der mangelnden Kontrolle
Schwangerschaft und Geburt sind immer noch Lebenssituationen, die trotz aller Technik unserer eigenen Kontrolle nur in Grenzen unterliegen. Frauen, die dies akzeptieren können, erleiden oft weniger Ängste rund um die Geburt. Die Schmerzen während einer Entbindung haben ihren Sinn. Hat die Frau Ruhe und kann sie sich ihnen hingeben, so findet sie ihren Rhythmus und ihren Umgang mit ihnen. Sie verliert das Gefühl für die Zeit. Und sie wird vielleicht sogar unter Orgasmen gebären – wenn man sie in Ruhe lässt.
Wenn es nicht läuft, wie gewünscht
Niemand kann vorhersagen, wie eine Geburt ausgeht. Ein plötzlicher Kaiserschnitt ist für viele Frauen ein schockierendes und trauriges Erlebnis. Schließlich bekommen viele in ihrem Leben nur einmal oder wenige Male die Gelegenheit zur natürlichen Geburt. Wie Frauen mit diesem Schmerz umgehen können, zeigt das von der Ärztin Katrin Mikolitch gegründete Kaiserschnittnetzwerk. Auch die modernste Medizin kann nicht verhindern, dass ein Baby im Mutterleib stirbt oder mit Behinderungen zur Welt kommt. Für fast jede Situation gibt es heute glücklicherweise hilfreiche Gesprächsangebote in den Krankenhäusern und Geburtshäusern. Sprechen Sie in jedem Fall mit Ihrem Arzt oder Ihrer Hebamme darüber, was Sie sich wünschen und was Ihnen gut täte.
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Filmtipp:
Der lange Weg ans Licht
Ein Film von Douglas Wolfsperger. Hebamme Edeltraut Hertel erzählt in bewegender Weise von ihren Erfahrungen in Afrika und Deutschland.
Links:
Geburtshaus Bonn
www.geburtshaus-bonn.de
Geplante Hausgeburt so sicher wie Entbindung in der Klinik
Deutsches Ärzteblatt, 1.9.2009
Anafonesis – geführtes Tönen in der Geburtshilfe
www.anafonesis.com
Haptonomie
Dr. med. Mehdi Djalali, Düsseldorf
Zentrum für Entwicklung und Forschung der Haptonomie
www.haptonomie.org
Buchtipps:
György Hidas, Jenö Raffai:
Nabelschnur der Seele
Psychoanalytisch orientierte Förderung der vorgeburtlichen Bindung zwischen Mutter und Baby
Psychosozial-Verlag
Michel Odent:
Geburt und Stillen – Über die Natur elementarer Erfahrungen
Beck’sche Reihe
Dieser Beitrag erschien erstmals am 27.4.2011
Aktualisiert am 14.6.2017
2 thoughts on “Mut zur natürlichen Geburt”
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Liebe Erol,
vielen Dank für diesen wichtigen Kommentar.
Die Trennung vom Kind durch die Geburt ist ein wichtiges Thema, auf das die Mütter vorbereitet werden sollten. Ich habe im Geburtshaus Bonn erlebt, dass in den Geburtsvorbereitungskursen genau das besprochen wurde: dass die Geburt erschwert werden kann, weil die bevorstehende Trennung innerlich zu weh tut. Die Hebamme dort sagte: „Die Frau wird entbunden und neu verbunden.“ Dieses Thema wurde so anschaulich und ernsthaft durchgearbeitet, dass sich die Frauen in den letzten Schwangerschaftswochen intensiv damit befassen konnten.
Bei der Geburt wurde dann darauf geachtet, der Mutter das Baby erst auf den Bauch zu legen, wenn sie bereit dafür war. Dann wurde darauf geachtet, dass das Baby nicht eine Minute aus dem Blickfeld der Mutter verschwand – auch bei der Untersuchung des Kindes nicht.
Dieses einfühlsame Vorgehen führt dazu, dass die Mutter sich gehalten fühlt, vorbereitet ist und das Kind gehen und kommen lassen kann.
Liebe Frau Voos,
die Geburt eines Kindes ist auch immer eine erste Trennung von ihm. Mich hat dieses mir nicht wirklich bewusste aber gefühlte Erleben unter der Geburt stark beeinflusst, die ‚aktive Austreibung‘ verzögert.
Zum Glück ist alles gut verlaufen, doch es würde mich interessieren, ob Sie derartiges Schilderungen schon einmal vernommen haben.