Kein MRT bitte! Die Gnade des Nicht-Wissens
Ende der 90er Jahre erlitt ich in der Nacht einen plötzlichen Drehschwindel, der sich gewaschen hat. Drei Wochen lang konnte ich nicht geradeaus laufen. Ich war seekrank, ohne auf einem Schiff zu sein, mein rechter Gleichgewichtsnerv war tot: „Neuronitis vestibularis“, so lautete die Diagnose. Ähnlich wie bei einem Hörsturz steht hier die Frage im Raum: Könnte es sich um ein Akustikusneurinom, also einen gutartigen Tumor des 8. Hirnnerven (Hör- und Gleichgewichtsnerv) handeln? Die Brainstem-evoked Response Audiometry (BERA), ein EEG-artiger Test der Hirnstammnerven, war unauffällig. Es sprach nichts für ein Akustikusneurinom. Und dennoch blieb die Frage: Sollte ich ein MRT durchführen lassen?
„Tun Sie’s nicht!“, sagte mir mein damaliger Allgemeinmedizinprofessor. Kürzlich litt ich wieder verstärkt unter Gleichgewichtsproblemen und Ohrenschmerzen. Es war eine stressige Zeit, der HNO-Arzt empfahl ein MRT. Natürlich muss man auf so einen MRT-Termin warten. Es zogen zwei Monate ins Land und ich war wieder beschwerdefrei. Die MRT-Praxis rief zwei Tage vor dem Termin an: „Am Mittwoch haben Sie hier Ihren Termin – könnten Sie uns diesen nochmals bestätigen?“ – „Ja, ich komme“, sagte ich. Aber meine Zweifel waren groß.
„Trinken Sie einen schönen Kaffee und fahren Sie nach Hause“
Es gibt sie noch, die guten Ärzte, die ein Gespür für ihre Patienten haben und Raum für Entscheidungen lassen. Im unterirdischen MRT-Warteraum kam mir kurz der Gedanke „Vorort zur Hölle“. Ich wurde aufgerufen und durfte im hellen, freundlichen Praxisraum Platz nehmen. „Man kann sich auch tot-diagnostizieren, oder?“, sagte der Arzt. Ich war verblüfft. „Genau mein Reden“, sagte ich. Er sagte, was ich dachte: „Wissen Sie, wir entdecken hier so viele, auch große Akustikusneurinome durch Zufall und die Patienten haben gar keine Beschwerden.“ – „Außerdem würde ich nichts machen lassen, ich würde keine Operation wollen, wenn ich eines hätte. Akustikusneurinome sind gutartige ‚Haustiertumore‘, die in der Regel nichts machen.“ – „Eben“, sagte der Arzt.
Welche Folgen hätte ein MRT?
„Auch, wenn Sie ein Akustikusneurinom hätten, heißt das nicht, dass Ihre jetzigen diffusen Beschwerden daher kämen.“ – „Ja, und gleichzeitig gibt es nur schlecht untersuchte Patienten, keine gesunden“, sagte ich. „Ich will nicht, dass man stattdessen hier ein Aneurysma (Gefäßerweiterung), eine Multiple Sklerose oder einen Hirntumor entdeckt.“ – „Eben“, sagte der Arzt. „Und die Wahrscheinlichkeit, im MRT irgendwas Neues, Beunruhigendes zu finden, ist immer gegeben.“ „Darum hätte ich auch beinahe noch eine Stunde vor dem Termin hier abgesagt. Darf ich gehen?“, fragte ich. „Natürlich. Wissen, Sie, die Gnade des Unwissens ist in der heutigen Zeit gar nicht mehr zu überschätzen. Trinken Sie einen schönen Kaffee und gehen Sie nach Hause.“ Wir lächelten. „Auf Wiedersehen.“ Selten habe ich mich so geheilt gefühlt.
Nachtrag: Im Oktober 2016 erfolgte doch das MRT. Befund: Alles in Ordnung.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 6.10.2011
Aktualisiert am 31.10.2016
3 thoughts on “Kein MRT bitte! Die Gnade des Nicht-Wissens”
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Liebe Constanze,
ein Lagerungsschwindel ist ausgeschlossen. Wer einmal eine Neuronitis vestibularis hatte, weiß, dass das etwas ganz anderes ist, als alles, was er vorher erlebt hatte. Es ist ein ganz einschneidendes Erlebnis. Und der Gleichgewichtsnerv ist nachweislich funktionsuntüchtig. Ein Lagerungsschwindel hängt ja oft mit Ablagerungen im Vestibularissystem zusammen und kann durch Training behoben werden.
„Unwissend“ zu sein ist in vielen medizinischen Fällen natürlich eben nicht gut. Ich bin für die „wohlüberlegte“ Diagnostik. Ich finde es wichtig, zu differenzieren und sich zu überlegen, ob eine Diagnostik, die keine therapeutischen Konsequenzen hat, notwendig ist.
Und auch die Folgen einer überflüssigen Diagnostik sind nicht zu unterschätzen. Das ist ja die laufende Diskussion bei den Screenings zum Mamma-Karzinom (Brustkrebs). Viele Ärzte fragen sich, ob es sich lohnt, so viele Frauen „aufzuschrecken“ und durch Fehldiagnosen zu belasten, wo doch im Vergleich zum Aufwand nur wenige Frauen wirklich profitieren. Solche Fragen lassen sich wohl nie leicht beantworten. Eine Frau, die gerettet wurde, wird sicher immer dankbar sein und für die Diagnostik plädieren. Eine Frau, die operiert wurde, obwohl sie gesund war, wird dagegen stimmen.
Viele Grüße
Dunja
Liebe Dunja,
hat einer der Ärzte mal über einen Lagerungsschwindel nachgedacht? Das wäre – als medizinischer Laie – meine erste Idee gewesen, gerade bei dn Symptompen. Ansonsten kann ich die „Gnade des Unwissens“ nur unterschreiben – nicht in allen, aber in vielen Fällen ;-)
Viele Grüße
Constanze