„Ich bin Gott!“ – Warum Psychotiker das vielleicht oft glauben
Viele Psychotiker haben in der frühesten Kindheit die schlimmsten Dinge erlebt. Nicht wenige konnten nur überleben, indem sie sich „tot“ stellten oder wie Gott erlebten. Wenn ein psychotischer Patient kommt und behauptet, er sei Gott, ist die Versuchung groß, ihm zu zeigen, dass es nicht so ist. Manche Patienten wollen sogar, dass man sie bestätigt. Doch dann würde der Therapeut sich unglaubwürdig machen. Daniel Knafo und Michael Selzer stellen dieses Dilemma in ihrem Buch „From Breakdown to Breakthrough“ (Routledge, 2024, S. 40-43) eindrücklich dar. Sie schlagen vor, auf eine spezielle Art nachzufragen, z.B. so: „Seit wann weißt Du, dass Du Christus bist?“ (S. 42) So kann der Patient sich ernst genommen fühlen, seine Welt mit dem Therapeuten teilen und durch Nachdenken gleichzeitig nach alternativen Sichtweisen suchen. Der Therapeut dürfe nicht vergessen, dass der Patient in einem komplizierten Wahnsystem stecke, so Knafo und Selzer (S. 40 ff.).
Viele Menschen mit einer Psychose oder Schizophrenie haben zudem Schwierigkeiten damit, sich als ein „Selbst“ zu erleben, ohne gequält zu sein. Die Subjektivität kann so qualvoll erlebt werden, dass sie vermieden wird. Möglicherweise hat sie sich auch nie „richtig“ entwickeln können. Es fällt vielen Betroffenen schwer, sich als jemanden wahrzunehmen, der eigene Absichten hat und der etwas auslösen kann, was Konsequenzen hat. Die sogenannte „Intentionalität“ ist nicht so entwickelt, dass sie bewusst gehandhabt werden könnte.
Viele Betroffene fühlen sich gequält von unguten „Ich-Gefühlen“. Es gibt ein Problem mit dem „Ich“ und Antworten werden gesucht. Da könnte man an die Bibelstelle denken, in der Gott sagt: „Ich bin, der ich bin.“ (2. Mose 3:14, ERF Bibleserver). Das „Ich“ kann in unserer unbewussten Vorstellung mit dem Gefühl der „Allmacht“ zusammenhängen – besonders dann, wenn man sich ohnmächtig oder sehr schuldig fühlt. Diese Ohnmacht wird dann durch das Gefühl von „Allmacht“ abgewehrt. Das „Ich“ ist schwer fassbar und schwer zu beschreiben – ähnlich wie ein „Gott“ auch.
Im Buch „From Breakdown to Breakthrough“ (Routledge, 2024): schreiben Danielle Knafo und Michael Selzer (S. 53): „A patient might declare, „If I say I am Jesus Christ, it is because I am Jesus Christ.“ There is nothing to interpret or understand here, beyond the literal meaning of the statement. Because fear is the patient’s overwhelming dynamic, they are more likely to signal what they wish to avoid than what they seek. Desire must take back seat to protection.“
(Frei übersetzt von Voos:) „Ein Patient sagt vielleicht: ‚Wenn ich sage, ich bin Jesus Christus, dann deshalb, weil ich Jesus Christus bin.“ Hier gibt es (für den Therapeuten) nichts zu interpretieren oder zu verstehen.
Weil die Angst so überwältigend ist, macht der Patient eher deutlich, was er unbedingt vermeiden will. Das, wonach er sucht und was er sich wünscht, muss hinten anstehen.“
Viele Psychotiker beschäftigen sich stark mit Glauben und Religion. Es könnte daher sogar ein Unterschied sein, ob ein Betroffener sagt, er sei Gott oder ob er behauptet, er sei Jesus. Denn Jesus war auch ein Mensch und vor allem ein Sohn, der in Beziehung zu seinem Vater stand. Daher ist es interessant, einmal zu beobachten, ob sich der psychotische Patient im Laufe der Psychotherapie sozusagen von Gott zu Jesus hin entwickelt.
Dadurch, dass die Kommunikation und die Beziehung zu anderen so gestört ist, sind Psychotiker in ihrem eigenen, oft entsetzlichen Universum. Sie haben vielleicht recht damit, dass sie das Unvorstellbare, das sie erlebt haben, nur mit wenigen Menschen teilen können. So, wie sie nur schwer mit anderen kommunizieren können, so können sie können auch kaum mit „sich selbst“ kommunizieren (siehe „Symbol und Symbolisiertes“). Statt eines „Ich“ oder „Selbst“ gibt vielleicht nur ein ausgefülltes „Irgendwas“. Es fehlt, symbolisch gesprochen, der innere Vater, der Abstand schafft und aus dem Chaos, dem Schlamm, herausführt (siehe hierzu auch die Arbeiten von Lacan, z.B. „Name-des-Vaters“, Wikipedia).
Es ist vermutlich gar nicht so selten, dass Menschen mit Psychosen sich zwischendurch für Gott halten. Der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900), der an einer Demenz starb, soll sich selbst zeitweise für Gott gehalten haben. Sein Vater, der Pfarrer Carl Ludwig Nietzsche, verstarb 1849, als Nietzsche fünf Jahre alt war. Nietzsches berühmtes Thema „Gott ist tot“ könnte aus psychoanalytischer Sicht auch als „Vater ist tot“ gedeutet werden – mit allen kindlichen Phantasien dazu wie z.B. der Phantasie, selbst schuld am Tod des Vaters zu sein (siehe ödipale Phase).
Oft sprechen Betroffene erst spät aus, dass sie sich für Gott halten – häufig erst dann, wenn sie wirklich Vertrauen in den Psychotherapeuten gefasst haben. Manchmal tritt die Überezeugung bzw. das Gefühl, Gott zu sein, auf, wenn sich die Betroffenen sehr gequält fühlen, oder auch im Gegenteil: Wenn sie sich sehr wohl und momentan von ihrer Qual befreit fühlen. Bei psychisch labilen Menschen können auch starke Atemübungen dazu führen, dass so ein schwebendes Gefühl durch die Atmung entsteht, dass das „kernige Ich“ nicht mehr spürbar ist und stattdessen das Gefühl auftritt, „überall“ zu sein, quasi wie ein Gott.
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Links:
Danielle Knafo and Michael Selzer (2024):
From Breakdown to Breakthrough
Psychoanalytic Treatment of Psychosis
Routledge, 2024
Jones N, Kelly T, Shattell M. (2016):
God in the brain: Experiencing psychosis in the postsecular United States.
Transcultural Psychiatry. 2016; 53(4): 488-505. doi: 10.1177/1363461516660902
https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/1363461516660902
Janssen, I, Krabbendam, L et al. (2004):
Childhood abuse as a risk factor for psychotic experience
Acta Psychiatry Scandinavia, 109(1): 38-45
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/14674957/
Tracy A Prout et al. (2016)
Parental and God Representations Among Individuals with Psychosis: A Grounded Theory Analysis
Journal of Religion and Health 55: 2141-2153
https://link.springer.com/article/10.1007/s10943-016-0265-0
Hanevik, H. et al. (2017):
Religiousness in First-Episode Psychosis.
Archive for the Psychology of Religion (Brill), 39(2), 139-164
https://doi.org/10.1163/15736121-12341336
https://brill.com/view/journals/arp/39/2/article-p139_3.xml
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 28.10.2023
Aktualisiert am 1.12.2023