Das Schlimme (2)
Das Schlimme hat so einen Sog. Dieser Lärm, verursacht durch das eigene Schreien. Diese Stille, verursacht durch alle, die schweigen. Diese Wut und diese Rachsucht auf alle, die nicht verstehen, die nicht gesehen haben und die auch heute nicht wissen, was sie tun. Das Schlimme zieht mich immer wieder an. Ich gleite hinein. Ich suche es und kann es doch nicht akzeptieren, nicht aushalten. Was heißt un-aus-haltbar überhaupt? Dass man sterben möchte, aber nicht kann? Ein Schwebezustand, in dem es nicht vor und nicht zurück geht. Man solle vertrauen. Alles sei auszuhalten. Sagen die, die noch nie das Nicht-Aushaltbare erlebt haben.
Ich kann nicht akzeptieren, gleich nach dem Auf-die-Welt-Kommen als Baby fast zu Tode gequält zu werden. Ich kann nicht akzeptieren, dass ich vielleicht gleich nach dem Tod feststellen muss, wieder in einem ewigen Leben gelandet zu sein, wo es noch nicht mal einen Lufthauch gibt, wo es einfach gar nichts gibt außer einen schrecklichen Schwebezustand, in dem der Körper tot und unberührt ist und der Geist verrückt wird. Ein ewiges Wahnsinnigwerden. Das kann ich nicht akzeptieren. Und wenn abertausende buddhistische Mönche sagen, dass man gelassen annehmen solle, was immer da komme. Es geht nicht.
Ich habe durch das Schlimme die Macht. Die Macht, alle gegen mich aufzubringen. Aber auch die Macht, dass alle besorgt sind und sich um mich kümmern. Das festzustellen, rührt mich. Es lindert meine Rachewünsche. Es beruhigt meinen inneren Tumult. Auch, wenn die anderen nicht ganz verstehen, wenn sie nicht ganz wissen, wenn sie das nicht erlebt haben, so gibt es doch eine Ebene, auf der sie spüren können. Mit mir in Kontakt treten können. Das nehme ich so gerne an. Ich kann mich jetzt berühren lassen. Endlich. Vorbei die Abwehr. Und wenn ich bitte, in Ruhe gelassen zu werden, lassen die anderen ab. Und ich gehe weg. Auch das kann ich. Sie spüren: Sie hat schon genug Qualen erlebt.
Ich kann an meiner inneren Haltung arbeiten. Ich kann dem Sog, der Verführung des Bösen und Schlimmen widerstehen. Ich will mich da nie wieder hineinbegeben, auch wenn es mich noch so sehr ruft. Manchmal muss ich genau hinfühlen, um ihm zu entgehen. Es kann durch Spüren vergehen. Und wenn ich sterbe, dann kann ich mir vielleicht aussuchen, wohinein ich mich gleiten lasse. Ich kann hoffen.
„Vielleicht kannst Du Dir nicht vorstellen, dass Du dann nichts mehr spürst“, sagte mir jemand. Wirklich nichts mehr spüren. Das ist etwas anderes, als das Gespürte abzuwehren. Ob die Menschengewalt „Vojta“ oder die Naturgewalt „Tsunami“ – beiden gemeinsam ist, dass sie aufhören. Nur während man drin ist, erlebt man die Ewigkeit.
Und wenn sie aufhört, kann ich der neuen Versuchung aus dem Wege gehen. Ich lasse mich in den wahren Tod hineingleiten. Manchmal, wenn ich konkret das Sterben spüre, dann hat es etwas sehr Tröstliches, weil es das ist, was ich mir sonst nicht vorstellen kann – ein echtes Zuhause, für das es keine Worte gibt. Das Schlimme, das Unaushaltbare, das kann ich mir vorstellen. Und im Nicht-Vorstellbaren steckt vielleicht das, was … mich erlöst.
Kommentar: Manche Menschen erleben schon in der Babyzeit Gewalt – durch medizinische Behandlungen oder Verwahrlosung, durch Gewalt durch die Mutter oder den Vater. Dafür gibt es keine Worte, sondern nur „Zustände“. Viele Betroffene haben eine immense Angst. Auch die „Angst vor der Unendlichkeit“ kann hier ihren Ursprung haben, denn traumatisierende Situationen erlebt ein Baby (aber oft auch noch der Erwachsene) als Ewigkeit.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 28.10.2021