Irrationale Wut hat wie irrationale Angst einen Grund
„Über Wut soll man sprechen“, heißt es so schön. Doch wie soll man darüber sprechen, wenn man wütend ist, dass der andere ein eigenes Leben hat? Wenn es einen wütend macht, dass man sich abhängig fühlt? Wenn es einen wütend macht, dass der andere Haus und Garten hat, während man selbst in einer kleinen Bude hockt? „Über diese irrationalen Wutgefühle zu sprechen, ergibt doch keinen Sinn, oder?“, fragt man sich. Doch! Alleine darüber zu sprechen kann entlasten, wenn der andere zuhört.
„Ich leide unter chronischem Ärger“, sagt ein Patient. „Ich bin in einer gewaltsamen Familie groß geworden und merke, wie mich meine Vergangenheit daran hindert, beruflich und privat vorwärtszukommen.“ Was tun bei einer solchen Verzweiflung und chronischen Wut? „Alle anderen kommen mir glücklicher vor, allen anderen scheint es besser zu gehen“, sagt der Patient.
Es ist alles so lange her
Ja, es gibt chronische Ärgerzustände im Leben, die sich durch kaum etwas lindern zu lassen scheinen. Doch man spürt vielleicht auch, dass diese Zustände wie Wellen stärker werden und sich wieder abschwächen. Chronische Wut aufgrund von furchtbaren Kindheiten ist meistens ein Lebensthema, das man auch zur Lebensmeditation werden lassen kann. Man kann darüber schreiben, man kann sie in Kunst gießen, sich einem Leistungssport oder anderem Projekt widmen.
Wichtig zu spüren ist, dass dieser chronische Ärger oft verbunden ist mit einem Gefühl von Neid und dass diese Gefühle das Zusammenleben mit anderen erschweren können. Auch wenn die Wut und der Neid noch so „irrational“ erscheint, können wir vielleicht darüber sprechen. Und manchmal merken wir, dass hinter so mancher „irrationaler Wut“ auch etwas Konkretes steckt – vielleicht haben wir uns tatsächlich über etwas Nachvollziehbares geärgert, trauten uns aber nicht, es in diesem Moment anzusprechen. Dann kann sich irrationale Wut darüberlegen und verstärken.
„Ich hatte mich gestern darüber geärgert, dass Du mir nicht zugehört hast“, können wir vielleicht sagen. Wenn der andere es aufnehmen kann, merken wir vielleicht, wie sich auch andere schlechte Gefühle abschwächen – vielleicht nimmt der Neid ab oder wir bemerken auf einmal auch die schönen Seiten unserer Studentenbude.
In Wirklichkeit ist es nicht „irrational“
Mit der „irrationalen Wut“ ist es wie mit der „irrationalen Angst“ – sie hat ursprünglich einen festen Grund. Wer eine Spinnenphobie entwickelt hat, der kann von ihr befreit werden, wenn die „wahre Angst“ dahinter erkannt wird. Wer Angst hat, gleich zu sterben, der erfährt vielleicht irgendwann im Leben, dass er als Baby oder Kleinkind fast gestorben wäre und sich heute daran „erinnert“, wenn er in bestimmte Körperzustände gerät.
Die sogenannte „irrationale Angst“ lässt sich zurückführen auf „innere Gefahren“, die genauso ernstzunehmen sind wie „äußere Gefahren“. Diese „inneren Gefahren“ gehen oft zurück auf unbewusste Phantasien, die sich aus real Erlebtem gebildet haben können.
Auch die ursprüngliche Wut des Patienten ist berechtigt. Sie läuft heute oft ins Leere, weil er mit den Eltern nicht mehr sprechen kann oder weil die früheren Täter nicht bestraft wurden. Aber sie bindet sich manchmal auch an andere, aktuelle Gründe zum Wütendsein. Nur verdrängt man möglicherweise den aktuellen, realen Grund und findet sich in der alten Wut-Schlaufe wieder. Woher die aktuelle Wut auch immer kommen mag: Es lohnt sich, darüber nachzudenken und darüber zu sprechen.