Einsamkeit: Soll ich raus gehen oder drin bleiben?

„Früher bin ich auch alleine schwimmen gegangen, aber jetzt mache ich das nicht mehr. Wenn ich alleine raus gehe, dann fühle ich mich noch einsamer. Wenn ich zu Hause bleibe, muss ich wenigstens nicht die anderen glücklichen Menschen, die Pärchen und Familien sehen.“ Vielleicht geht es Dir ähnlich. „Geh`doch mal raus“, raten die anderen Dir. Und Du denkst: „Wenn ich solche Aufförderungen schon höre, krieg‘ ich die Krise.“ Rausgehen ist manchmal das Letzte, was die einsame Seele braucht. Du spürst vielleicht: Der Rückzug auf Dich selbst kann die Einsamkeit paradoxerweise oft wenigstens etwas lindern – jedenfalls im Vergleich zu dem Gefühl, das aufkommt, wenn Du „raus gehst“.

Einsamkeit verläuft in Phasen. Es gibt lange Phasen, in denen man einfach nicht rausgehen möchte. Anstatt gegen Dich selbst zu kämpfen, kannst Du dem Ruhebdürfnis ruhig nachkommen und drin bleiben. Ansonsten ist es wie mit dem Sporttreiben bei chronischer Erschöpfung: Hinterher fühlt man sich oft schlechter. Um wieder Sport treiben zu können, muss man sich erst einmal erholen. In den Rückzugsphasen, die sehr lange dauern können, kannst Du Dich beobachten.

Es kann sein, dass sich „Aktivitätsfensterchen“ öffnen. Es gibt Tage, an denen Du mehr körperliche und psychische Energie hast. Diese Tage sind wie Angelhäkchen. Wenn Du dann rausgeht, ist es oft eine gute Erfahrung und Du fühlst Dich hinterher frischer. „Ich habe irgendwann gemerkt: Wenn ich trotz dieser schrecklichen Einsamkeit raus gehen kann, bin ich doch irgendwie freier. Ich nehme die Einsamkeit dann mit“, sagt eine Frau, die sich sehr oft einsam fühlt.

Vorbilder

In der Einsameit fühlen wir uns vielleicht wie in einem Gefängnis. Die Lebensumstände erlauben es vielleicht über viele Jahre hinweg nicht, ein weniger einsames Leben zu führen: Da sind zu pflegende Angehörige, da steckt man in der Arbeit fest oder ist als Alleinerziehende an Zuhause gebunden. Es gibt kaum eine Chance, da herauszukommen. Doch diese Zeit lässt sich manchmal als Vorbereitung auf ein weniger einsames Leben nutzen. Ich finde es oft hilfreich, Videos zu schauen, die sich mit den Themen Einsamkeit, Stille und Unabänderlichkeit befassen wie z.B. die Videos von Eckhart Tolle. Man kann sich vielleicht vorstellen, dass so mancher Mensch jahrelang im Gefängnis sitzt und dann doch noch ein erfüllteres Leben führen kann.

Vielleicht bist Du nach einer langen Zeit der Einsamkeit der Meditation, Selbstfürsorge und Achtsamkeit schon müde. Wenn es da draußen keine bedeutsame Beziehung gibt, wenn Du wirklich viel oder fast nur alleine bist, dann können auch Meditation und Achtsamkeit zur Qual werden.

Geduld über viele Jahre

Wenn Du Dich in einigen Phasen doch überwinden kannst, rauszugehen, braucht es unglaublich viel Geduld. Der Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ zeigt ganz gut, wie man es anstellen kann, aus seiner Einsamkeit herauszufinden. Wenn Du es Dir z.B. angewöhnst, regelmäßig schwimmen zu gehen, dann kann es helfen, immer an denselben Tagen zur selben Uhrzeit ins selbe Schwimmbad zu gehen. Denn dann wirst Du höchstwahrscheinlich immer wieder auf dieselben Menschen treffen – und wirst diese dann kennenlernen. Das nimmt einem während einer ganzen Weile kein bisschen die Einsamkeit. Aber irgendwann hat man wenigstens einen kleinen ungezwungenen Kreis, den man kennt. Diesen Menschen würde es dann irgendwann auffallen, wenn man mal nicht erscheint.

Wer rausgeht, der zeigt sich dem Zufall.

Es kann draußen immer wieder zu zufälligen Begegnungen kommen, aus denen etwas entsteht. Diese Hoffnung nicht zu verlieren, auch wenn man schon viele Jahre „raus geht“, ohne dass sich etwas verändert, ist eine hohe Kunst.

Das Internet ist eine andere Form des Rausgehens. Auch hier hat man die Chance, gefunden zu werden.

Der Weg heraus aus der Einsamkeit ist ein Lebensprofjekt. Phasen des Einbruchs wechseln sich mit Phasen von Hoffnung und mehr Lebensenergie. Zwar ist „Selbstoptimierung“ ein Begriff, der in Verruf geraten ist, doch kann man die Einsamkeit tatsächlich nutzen, um sich selbst zu optimieren, indem man z.B. eine neue Sprache lernt. „Für wen mache ich das?“, fragt man sich. Und die Antwort kann lauten: „Für den bedeutsamen Menschen, den ich in der Zukunft noch treffen werde.“ Und wenn es erst am 99. Geburtstag geschieht: Ein warmherziger Blick kann alles verändern.

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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 13.10.2019
Aktualisiert am 18.8.2024

One thought on “Einsamkeit: Soll ich raus gehen oder drin bleiben?

  1. Dega sagt:

    Und wenn ein Blick reicht, wofür dann eine neue Sprache lernen? Wofür Lieder schreiben wenn sie keiner hört?

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