Das Tourette-Syndrom aus psychoanalytischer Sicht

Billie Eilish hat es, Jan Zimmermann beschreibt sein Tourette-Syndrom sehr anschaulich in seinen Videos „Gewitter im Kopf“ und im Fernsehen finden sich immer häufiger Menschen, die von dieser Erkrankung erzählen. Dabei leiden die Betroffenen unter nicht oder nur schwer kontrollierbaren Bewegungen (Tics) und Ausbrüchen von Worten, kurzen Sätzen und Geräuschen bzw. Stimmlauten (Vokalisationen). Sehr oft sind es aggressive, provokante und obszöne Worte, die plötzlich aus den Betroffenen ausschießen.

Manche Menschen, die an Zwangsstörungen leiden und innere Impulse verspüren, z.B. einen Menschen zu töten oder laut loszuschreien, befürchten, dass diese Impulse irgendwann einmal ausbrechen könnten und sie dann z.B. unkontrolliert Laute von sich geben würden wie ein Tourette-Erkrankter (siehe: Angst, laut loszuschreien?). Vielleicht sind Zwangsimpulse, die fast nie wirklich durchbrechen, eine Vorstufe des Tourette-Syndroms.

Viel ist zu lesen über genetische Vererbung, über Verhaltenshterapie und Medikamente. Oft wird die Störung mit ADHS oder Epilepsie in Verbindung gebracht und so beschrieben, als ob es tatsächlich keine oder nur wenige psychologische Einflussmöglichkeiten gäbe.

Die Psychologin Ursula Schattner-Meinke beschreibt die analytische Psychotherapie eines 10-jährigen Jungen, bei dem das Tourette-Syndrom verständlicher wird (Über die psychoanalytische Behandlung eines 10-jährigen Jungen mit Gilles de la Tourette-Syndrom. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 34 (1985) 2, S. 57-63, Abstract).

Der Beitrag von Ursula Schattner-Meinke aus dem Jahr 1985 zeigt, wie das Tourette-Syndrom mit der Hemmung von Aggression und Bewegung in der Kindheit zusammenhängen könnte. Außerdem besteht ein enger Zusammenhang zur ödipalen Phase und mit der transgenerationalen Weitergabe von Kriegstraumata, weshalb z.B. nationalsozialistische Themen in den Tics und Ausrufen auftauchen können (siehe auch: Kriegsenkel).

Aggression versteckt sich hinter aggressiven Tics

In der Therapie des 10-jährigen Simons wird deutlich, wie situationsabhängig seine Tics und Ausrufe sind:

„Beim Konterballspiel und den Erzählungen sind die Tics verschwunden, die Angst ist kaum noch zu spüren.“ (S. 59)

Je mehr der Junge sich traut, seinen Aggressionen Raum zu geben, desto weniger muss er seine Tics einsetzen, um eine Situation zu überspringen. Die Tics sind Ablenkung von der Aggression und Hinweis auf sie zugleich. Simon malt eine grausige Szene und fragt seine Therapeutin:

„Macht es Ihnen nichts aus, wenn ich solche Geschichten male?“ Als ich (Therapeutin Ursula Schattner-Meinke) dies verneine, scheint er erleichtert zu sein In dieser Stunde ist der Bann gebrochen. Simon hat es nicht mehr nötig, sich einzumauern oder seine aggressiven Impulse an mich zu delegieren Er kann auf seine zwanghafte Abwehr verzichten, er kann sich öffnen und sich als zerstörerisches Monster zeigen …“ (S. 60).

Die Fortschritte in der Therapie wecken in dem Jungen teilweise massive Ängste:

„In der folgenden Zeit muss Simon, wenn er sich von mir verabschiedet, zwei- bis dreimal wieder zurückkommen und nachschauen, ob ich noch im Raum bin Als ich ihn nach dem Grund frage, teilt er mir mit, dass er sich speziell auf dem Heimweg Geschichten von Urmenschen ausdenkt, Urmenschen können, wenn sie gereizt werden, andere verschlingen Er müsse nachschauen, ob ich noch da sei. Auf dem Heimweg geht er dann zwei Schritte vor und einen Schritt zurück, damit die Befürchtungen nicht eintreten Zu Hause kommt es teilweise zu Nahrungsverweigerung und zu schweren Grunz- und Schrei-Tics, die vorübergehend zu seiner Ausschulung fuhren“ (S. 61).

Doch auch in der weiteren Therapie zeigt sich, wie Simons Tics nachlassen, sobald bestimmte Themen bearbeitet werden:

„Die starke Verdrängungsdecke ist gerissen und macht in den folgenden Stunden ein Gespräch über Sexualität möglich … Nach diesem Gespräch sind fast schlagartig die Tics wieder verschwunden“ (S. 61).

Das Tourette-Syndrom wirft viele Fragen auf und viele Betroffene sind entlastet durch die Erklärung, dass es ein rein neurologisches Geschehen sein könnte. Nur durch spezielle Verhaltensmaßnahmen und nur in Grenzen könne man die Symptome in den Griff bekommen.

Wenn sich Betroffene jedoch damit nicht zufrieden geben und sich auf die Suche nach eigenverantwortlichen Lösungen begeben, können sie möglicherweise mehr steuern als gedacht. Es braucht viel Geduld. Die Angst vor „Rückschlägen“ wird immer da sein und es wird sie wahrscheinlich auch geben, doch das emotionale Erleben von Zusammenhängen zwischen Affekten, inneren Spannungen, Konflikten und Tics führt möglicherweise mehr und mehr zur Erleichterung.

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Studien:

Tourette Syndrome: Update
Mark Hallett
Brain and Development
Volume 37, Issue 7, August 2015, Pages 651-655

The electroencephalogram in Tourette syndrome
Dr. Donna Bergen MD et al. (1982)
Annals of Neurology, April 1982, Vol. 11, Issue 4: 382-385
https://doi.org/10.1002/ana.410110411

„The electroencephalogram (EEG) was studied in 38 patients with Tourette syndrome. Psychometric tests and neurological evaluation identified patients with signs of additional central nervous system dysfunction. … epileptiform activity was uncommon (only 2 out of 38). Most of the patients with EEG abnormalities either had other objective signs of neurological dysfunction or were taking haloperidol, a drug known to disturb the EEG.“

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 22.9.2019

One thought on “Das Tourette-Syndrom aus psychoanalytischer Sicht

  1. modean sagt:

    Hallo Frau Voos,

    im Buch „Autismus, ADHS und Tics“ i.d. dritten Auflage schreibt Ludger Tebartz van Elst folgendes:

    „““
    Das Phänomene der Tics sind seit dem frühen 19. Jahrhundert wissenschaftlich beschrieben. Ihre Deutung wandelte sich erheblich. Noch heute besteht keine Einigkeit darüber, ob sie als neurologisches oder psychiatrisches Phänomen verstanden werden sollten.
    „““

    Ich mag die Publikationen von Ludger Tebartz van Elst sehr, da er nicht nur die einzelnen „Störungen“ sehr klar beschreibt, sondern sie auch sehr klar einzuordnen weiss und dabei auch feststellt, wenn sich etwas nicht exakt einordnen lässt.

    Das gleiche macht er mit dem Störungs- als auch Krankheitsbegriff und dem Begriff der Normalität selbst. Dadurch wird klar, dass vieles je nach Kontext differenziert bzw. anders verstanden werden muss. Es wird auch klar, wo es keine Einigkeit und damit eben Unsicherheiten gibt. Das empfinde ich als etwas sehr wichtiges, dass genau so und so klar zu benennen.

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