Wie einen (Sorge-)Rechtsstreit und die Gerichtstermine durchstehen?
Das englische Wort „to injure“ heißt „verletzen“. Gleichzeitig steckt darin das Wort „Ungerechtigkeit“. Wohl kaum etwas trifft einen Menschen härter als ein Brief vom Anwalt. Plötzlich fühlt man sich ohnmächtig und ausgeliefert. Rechtsstreitereien finden oft statt zwischen Menschen, die sich nahestehen: zwischen Vater und Mutter eines Kindes, zwischen Kind und Vater/Mutter, zwischen Nachbarn, zwischen Geschwistern. „Das ist ungerecht!“, fährt es uns durch den Kopf und unser Herz zieht sich zusammen.
Sobald ein Rechtsstreit beginnt, nehmen die schlaflosen Nächte zu. Nachts grübelt man nur noch. Ähnlich wie bei einem Burnout im Beruf kann man von diesem Thema nicht mehr ablassen. Es verfolgt einen innerlich permanent und man hat das Gefühl: Ich könnte nach China reisen – das Problem wäre immer noch gleich hinter mir.
Hilflose Helfer
Der Arzt- und der Anwaltsberuf gehören zu den angesehensten Berufen in unserer Gesellschaft. „Geh unbedingt zum Arzt!“, sagen wir einander, wenn es körperliche Probleme gibt. Doch die Realität zeigt oft: Bei chronischen Erkrankungen sind auch viele Ärzte hilflos. Trotz Arzt schleppt man sich weiterhin mit seinen Beschwerden herum. Ähnlich beim Anwalt: Sobald ein „Unrecht“ geschieht, rufen wir nach dem Anwalt. „Es gibt doch Rechte und Gesetze!“, denken wir. „Ein starker Anwalt wird mir zu meinem Recht verhelfen!“, hoffen wir. Anfangs mag in dem Gedanken eine gewisse Euphorie liegen. Doch bald lernt man: „Recht“ ist oft zum großen Teil Auslegungssache.
Ein Gefühl jagt das nächste
Die Gefühlskaskade geht los: Wir fühlen uns hilflos, dann wütend, dann rachsüchtig, immer wieder traurig und gelähmt. Wir fühlen uns gehetzt, gehasst, verfolgt. Wir hassen selbst und möchten schreien. Wir fühlen uns, als würde jemand von außen großen Druck auf unseren Körper ausüben. Herzrasen, Atemnot, Bluthochdruck lassen in uns die Sorge wachsen, wir könnten den Rechtsstreit nicht gesund überstehen. Vielleicht werden wir sogar ein paar Lebensjahre verlieren, so der Gedanke.
Festgebissen
Was können wir nur ausrichten gegen einen Angreifer, der uns „zu Unrecht“ angreift und nicht loslässt? Wir verteilen Diagnosen, halten den anderen für einen „Borderliner“ oder „Narzissten“, gar für jemanden mit einer perversen Charakterstörung. Der andere hält uns vielleicht für „Nerven-schwach“. Wir fühlen uns wortwörtlich „ge-kränkt“ und in unserer Würde missachtet. Wir werden nicht mehr gesehen, wie wir sind. Die seitenlangen Anwaltsbriefe enthalten Sätze über uns, über die wir nur mit den Ohren schlackern können. Wir erkennen uns nicht wieder. Defizit folgt auf Defizit und wir müssen uns ständig nur noch rechtfertigen. Wir fühlen uns wie ein Ertrinkender, der nur noch mit Mühe ab und an nach Luft schnappen kann. Wir sind gefangen. Was tun?
Im Rechtsstreit geht es um Beziehung, um Leben und Tod, um Liebe und Hass, um Mein und Dein, um die eigene Integrität. Die größte Sorge gilt der Frage: Werde ich mein Kind weiterhin behalten/sehen dürfen? Näher an den Kern eines Menschen lässt sich wohl kaum gelangen …
Bei dem Wort „Kindeswohl“ kann es einem ganz unwohl werden.
Meditieren
Wir fühlen uns total verstrickt und können kaum noch einen gefühlsmäßigen Abstand zu der Sache herstellen. Aber wir können dennoch etwas „tun“: Wir können uns in dieses Gefühl von „Verstricktsein“ begeben und darüber meditieren. Wie unangenehm das ist! Aber vielleicht kennen wir es aus anderen Situationen? Was bedeutet „Verstricktsein“ für uns? Schnürt es uns den Hals zu? Manchmal, wenn wir dieses Gefühl genau wahrnehmen, kann es paradoxerweise sein, dass wir uns weniger hilflos fühlen. Wir können mit einer Freundin über unsere Gefühle sprechen.
Ohnmacht
Und dann diese Ohnmacht! Wir haben das Gefühl, nichts mehr tun zu können. Und auch das ist ein Lebensgefühl, in dem wir uns üben können: Wenn wir lernen, Ohnmachtsgefühle anzunehmen, sie zu erkunden und zu spüren, dann ist das auch eine Lebensschule, denn wir fühlen uns auch in anderen Lebenssituationen ohnmächtig. Uns geschieht etwas, uns wird etwas angetan, wir fühlen uns hilflos. Das heißt, wir „er-fahren“ etwas. Wir machen intensive Erfahrungen und so unangenehm sie auch sind, so sehr können sie uns auch nützen. Sie können uns etwas lehren. Wir können uns fragen: Inwieweit sind wir Opfer, inwieweit Täter, Beteiligte, Provozierende oder Aktive? Plötzlich denken wir an die Freundin, die auch durch so einen Rechtsstreit musste. Wir können auf einmal wirklich mit-fühlen.
Der hat’s leichter!
In einem Rechtsstreit glauben wir: Dem anderen, also dem „Angreifer“, geht es besser als uns. Der andere hätte leichtes Spiel. Doch Rechtsstreitereien haben fast immer auch mit alten Gefühlen zu tun, die uns einmal sehr schmerzten, oft sogar mit Kindheitserfahrungen, die wir zu korrigieren suchen. Wir können davon ausgehen, dass es dem anderen genauso schlecht geht wie uns – jedem geht es auf seine Weise schlecht, aber beide fühlen sich krank. Die Überreaktionen des anderen sind Zeichen seiner Angst – der andere durchlebt mit hoher Wahrscheinlichkeit genauso große Ängste wie wir, auch, wenn es gar nicht danach aussieht. Wenn etwas emotional abgewehrt wird, heißt es nicht, dass es verschwunden ist.
„Aber du stirbst ungerechterweise!“, soll Sokrates‘ Frau vor seiner Hinrichtung gesagt haben. „Wäre es dir lieber, ich stürbe gerechterweise?“, soll Sokrates geantwortet haben.
Nicht reagieren
Etwas anderes lehrt uns der Rechtsstreit auch: Sobald wir den Anwaltsbrief in der Hand halten, wollen wir reagieren. Wir wollen „es dem anderen zeigen“, wir wollen „uns nicht unterkriegen oder einschüchtern lassen“, wir wollen uns „wehren“, vielleicht sogar rächen und „für die Gerechtigkeit kämpfen“. Wir wollen unser Ansehen wahren. Doch das Schwierige an unseren Reaktionen ist, dass sie uns oft selbst schädigen. Sobald wir reagiert haben, fühlen wir uns vielleicht erstmal gut, vielleicht etwas erleichtert. Doch die bohrenden Zweifel kommen wieder und mit ihnen die bange Frage: Wie wird nun der andere reagieren?
„Aber ich muss doch entschlossen sein! Ich kann mich doch nicht einfach unterkriegen lassen!“, denkt man im inneren Kampf vielleicht. Das Problem dabei ist das Bild, dass wir untergehen und dass uns ein anderer „niedermachen“ möchte. Dabei kämpft der andere auch darum, sich innerlich von einem Problem, von einem Schmerz zu befreien.
Wahrheiten
Wichtig ist, was wir über uns selbst denken. Vielleicht erkennen wir uns in einigen Anklagepunkten sogar wieder? Vielleicht sind Dinge offenbar geworden, die wir immer verstecken wollten? Können wir in solchen Momenten ehrlich auf uns blicken und uns auch nochmal selbst erforschen? Was haben die Anklagen mit meiner eigenen Kindheit und mit der Kindheit des anderen zu tun? Wie bin ich in diese Lage gekommen? Solche fragen können wir uns im Stillen stellen.
Es kann ein ungeheurer Kraftakt sein, nicht sofort zu reagieren, nicht sofort zurückzuscheißen zurückzuschießen. Doch Rechtsstreitereien zeichnen sich durch massive plötzliche Affekte aus und dann kommt das lange Warten. Die Gerichte sind langsam, die Anwälte lassen auf sich warten, es folgt wieder ein Urlaub, es geht langsam voran. Und was das für ein Geld kostet! Aber kostet es immer Geld? Auch wenn viele davon abraten: Manchmal kann es sinnvoll sein, ohne Anwalt vor Gericht zu erscheinen und zu sagen, was man denkt und fühlt – ohne Strategie.
Ruhigbleiben trotz aller Widerstände
Wichtig ist der Gedanke, dass „Nicht-Reagieren“ bzw. „Nicht-sofort-reagieren“ einen sehr viel weiterbringen kann als der sofortige Griff zum Telefonhörer oder die sofortige E-Mail-Antwort. Über eine Beleidigung schlafen, das große Druckgefühl auszuhalten und geduldig zu warten, bis es nachlässt, kann nachhaltig wirken. In dem Moment selbst, glauben wir, alles gehe den Bach herunter. Rückblickend kann man jedoch oft sagen: „Gut, dass ich darauf nicht reagiert habe.“ Ein langer Rechtsstreit kann sein wie eine chronische Krankheit. Es „macht“ etwas mit uns. Wir können diese Zeiten bewusst durchleben und uns bewusst Gutes tun: mehr schwimmen gehen, mehr im Wald spazieren gehen, mehr Kontakt zu guten, weisen Menschen suchen. Wir können diese Zeiten so nutzen, dass wir selbst davon weiser werden und mehr von der menschlichen Psyche verstehen.
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Endstation Kindeswohl
Rechtsanwalt Jürgen Rudolf, Vater des Cochemer Modells
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 18.8.2018
Aktualisiert am 20.10.2019
3 thoughts on “Wie einen (Sorge-)Rechtsstreit und die Gerichtstermine durchstehen?”
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Sehr trefflich beschrieben.
Genau so läuft es ab.
Es hat kein bisschen von den schillernden Gerichtssendungen und Anwaltsfilmen (vor allem aus den Staaten).
Es ist eine kaum erträgliche Situation, die Lebenszeit, Geld und Gesundheit kostet.
Eine Situation, die Gefühle in einem weckt, von denen man sich weit distanzieren müsste.
Solche Rechtsstreitigkeiten haben nichts mit Recht und Wahrheit zu tun. Hier zählt Geld und Ausdauer.
Sie hinterlassen ein psychisches Trümmerfeld und nicht selten den existenziellen Untergang.
In Wahrheit hilft einem Niemand.
Für die Anwälte ist man „ein Fall“, für die Gerichte ein lästiges Übel.
Eine bittere Lektion im Leben
Lieber modean,
ganz herzlichen Dank für Ihren ausführlichen Kommentar!
Ich prozessiere mit Unterbrechungen seit 2013. Stolz bin ich darauf sicherlich nicht. Aussenstehende verstehen es sicherlich auch nur bedingt. Dennoch ist es nun einmal so.
Ich wehre mich auch heute noch dagegen, wenn mir jemand sagt der andere, der Aggressor sei mein (groesster) Lehrmeister. Trotzdem sage ich nicht, dass ich nichts ueber mich gelernt haette. Es ist einfach der Problemberg selbst, der einen lehrt, wie man mit sich selbst und diesen umgeht.
Was ich sagen kann ist, dass ich alles ausprobiert habe. Oft versuche ich meine Affekte und Impulse auszuhalten. Hole mir erst einmal den Rat Dritter. Manchmal auch nur, um sagen zu koennen, ich habe nicht vorschnell und impulsiv gehandelt. Oft aber um einfach noch einmal eine andere Sichtweise auf eine verfahrene, fast unloesbare Situation zu bekommen.
Am Ende der ganzen Sache steht die Erkenntnis, dass es nicht den einen Richtigen Weg gibt. Das „Nicht-Reagieren“ bzw. „Nicht-sofort-reagieren“ hat mich beispielsweise in Teufels Kueche gebracht. Das „Nicht-Reagieren“ bzw. „Nicht-sofort-reagieren“ brachte den anderen derart in Rage, dass das ganze in einer Koerperverletzung und einem Hausfriedensbruch und jahrelanger Schikane endete.
Die Frage muss also eher sein, warum man so sehr am Konflikt haengt? Warum man meint nicht aussteigen zu koennen? Warum man immer wieder in derlei Konflikte mit dieser Intensitaet hinein geraet? Warum man so etwas aushaelt, obwohl es krank macht oider bisher gut kompensierte Stoerungen aufreist? Warum man meint es gaebe nur das schwarz weiss, das entweder oder und nicht das grau, das dazwischen als Loesung?
Am Ende sind dies alles sehr persoenliche Fragen, die mit dem Rechtstreit als solchen sehr wenig und mit einem selbst sehr viel zu tun haben.
Ich habe beispielsweise jetzt erst festgestellt, dass in meinem Schulbericht der ersten Klasse steht, dass ich mit Buechern etc. sehr unverantwortlich umginge. Nun bin ich ein sehr strukturierter und ordentlicher Mensch und auch als Kind ging ich mit Dingen, die man mir ueberlies oder schenkte, sehr sorgsam um. Ich meine es war damals einfach so, dass Mitschueler meine Buecher ramponierten und das dann eine Tadel gab und ich den Mund nicht aufbekam. Ein bischen erinnert mich das dann an den Artikel „Das unbewusste Wissen der Mobbinggruppe. Pervertierte Empathie“ in diesem Blog.
Vielleicht ist es also gar kein Zufall, dass ich mich trotz groesster Struktur und Unabhaengigkeit, immer wieder in irgendwelchen Mobbing-Situationen wieder finde, gegen die ich dann ankaempfen muss. Ertragen oder aushalten tu ich diese zwischenzeitlich nicht mehr, wie in der ersten Klasse aber wie oben, beschrieben scheint das dagegen ankaempfen eben auch nicht immer die sinnvollste Loesung zu sein.
Um auf den Anfang zurueck zu kommen, so denke ich ohnehin, dass der Denkansatz vor Gericht so etwas wie Gerechtigkeit oder Suehne fuer das eigene erfahrene Unrecht zu finden, ein voellig falscher ist.
Es muss nur so sein, dass man an den falschen Richter oder die falsche Kammer kommt und schon bricht eine vormals totsicher geglaubte Sache wie ein Kartenhaus zusammen. Man legt dann Einspruch ein und geht in die naechste Instanz und verbringt dann einen guten Teil seines Lebens damit sich ueber Anwaelte und Richter zu aergern, die offensichtlich allesamt inkompetent sein muessen. Irgendwann hat man dann nach der Arbeit, in naechtelanger Kleinarbeit, saemtliche Paragraphen und Gerichtsurteile durchgeackert und kennt sich besser mit dem Fall aus als der eigene Anwalt. Diesen nervt man dann natuergemaess mit endlosen Anfragen, so dass dann auch diese Beziehung Risse bekommt. Das ganze bekommt eine ganz eigene Dynamik und am Ende landet man dann in jedem Fall an einem Punkt, wo man eigentlich gar nicht landen wollte.
Vor Gericht findet man also im besten Fall nur die Bestaetigung, dass die eigene Rechtsauffassung, die sich auf Paragraphen und die aktuelle Rechtsprechung stuetzt, korrekt oder falsch ist. Ist sie falsch kann man in der naechsten Instanz noch irgendwelche Verfahrenfehler ueberpruefen lassen und irgendwann muss man dann von dem, was man gehofft vor Gericht zu finden, Abschied nehmen.
Eine Befriedigung oder Befriedung all der emontionalen, sehr menschlichen Empfindungen und Beduerfnisse findet man vor Gericht sicherlich nicht.