„Was wäre das Schlimmste, das Du Dir vorstellen könntest?“ Warum diese Frage bei schweren Ängsten oft nicht hilft.
„Gestern habe ich wieder den ganzen Tag Angst gehabt. Ich konnte es kaum aushalten. Ich dachte, ich muss sterben!“ Manche Psychotherapeuten stellen vielleicht diese Frage: „Was wäre denn das Schlimmste, was passieren könnte?“ Manche Patienten fühlen sich durch diese Frage entlastet, weil sie dann feststellen, dass bei genauerer Betrachtung das Schlimmste gar nicht so schlimm ist. Doch wenn die Probleme tiefer liegen, kann es sein, dass man sich noch unverstandener fühlt.
Der Zustand der „namenlosen Angst“, den Du vielleicht erlebst, ist möglicherweise ein Zustand aus der Vergangenheit. Es ist ein Gefühl, das wahrscheinlich dem Gefühl entspricht, das bestand, als Du Dich vollkommen verlassen oder gequält fühltest.
Wer therapeutisch ohne eine vorsichtige innere Haltung fragt: „Was wäre das Schlimmste, das Sie sich vorstellen können?“, hat vielleicht selbst das Schlimmste noch nicht erlebt. (Siehe #Abwehr auf Twitter)
Wortlos und Phantasielos. Dem Denken nicht zugänglich.
Vielleicht leidest Du während Deiner Angst unter einer unbestimmten Angst vor dem Tod, zum Beispiel unter der Angst, auf ewig verdammt zu sein. „Ich weiß nicht“, antwortest Du vielleicht auf die Frage, was das Schlimmste für Dich sein könnte, weil Du Dir das, was Du da fühlst und denkst, selbst nicht vorstellen kannst. Psychoanalytiker sagen dann vielleicht, dass Dein Gefühl zu einer traumatischen Erfahrung passt, die nicht „repräsentiert“ ist. Du hast also keine Vorstellung davon und keine Worte dafür, weil Dich Dein quälendes Erlebnis überfordert hast oder weil Du so jung warst, dass Du noch keine Wortsprache hattest.
Es geht um unbewusste Zustände. Was Du dabei aber sehr wohl „weißt“ und spürst bis in die tiefste Deiner Fasern hinein, ist, dass es sich um einen wortlosen Schrecken handelt. Um eine namenlose Angst, die oft mit einer „Angst vor dem Zusammenbruch“ verbunden ist – ein Begriff, den der Psychoanalytiker Donald Winnicott geprägt hat.
Was hilft?
An das Wortlose lässt sich häufig zunächst am besten durch Wortlosigkeit herankommen. Beispielsweise wird in einer Psychoanalyse viel geschwiegen und geträumt. Der Analytiker kann Deinen inneren Zustand möglicherweise in sich aufnehmen und mitfühlen. In der Beziehung zu einem vertrauten Menschen kann durch das Schweigen eine eindrucksvolle Atmosphäre entstehen oder ein Bild, das sich schließlich doch greifen und in Worte kleiden lässt. Musik, Kunst, Poesie, Spiel und Träumerei können bei schweren Ängsten helfen.
Dies setzt jedoch voraus, dass Du in einer haltgebenden Beziehung bist, denn ohne inneren Halt fühlst Du Dich bei diesen „schwebenden“ und „unkonkreten“ Dingen vielleicht sehr verloren, was Deine Angst verstärkt.
Der erste Schritt heraus aus diesen Ängsten ist es also, nach einer haltgebenden Beziehung zu suchen. Ich selbst empfehle da natürlich am liebsten die Psychoanalyse, denn hier gibt es genügend Zeit und Raum, um eine haltgebende Beziehung zum Therapeuten aufzubauen und zu verinnerlichen.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 15.5.2018
Aktualisiert am 15.6.2022