Wir brauchen mehr hochfrequente Psychotherapien für frühtraumatisierte und psychotische Menschen

„Ich brauche mehr Einzelgespräche“ – kaum einen Satz hörte ich öfter, als ich noch als Ärztin in einer psychiatrischen Tagesklinik arbeitete. Der Hunger nach haltgebender und empathischer Beziehung ist riesig. Wenn das Selbst wie „rupturiert“ (eingerissen) ist, braucht der Mensch einen anderen Menschen, der dabei hilft, das Selbst wieder „ganz“ werden zu lassen. Tageskliniken und vollstationäre Behandlungen in den Psychiatrien werden dem großen Bedürfnis der schwer Leidenden nach einer „zweiten Seele“ nicht gerecht. Wenn man sich die Videos der Säuglingsforscherin Beatrice Beebe anschaut oder an das Still-Face-Experiment denkt, dann sieht man, wieviel Gegenüber die menschliche Seele braucht, um gesund zu reifen. Schwer psychisch kranke Menschen haben oft einen großen Drang danach, diese Erfahrung einer engen Beziehung zu einem empathischen Menschen nachzuholen.

Doch die meisten Patienten pendeln zwischen einer Psychotherapie einmal pro Woche und dem Klinikaufenthalt. Eine psychoanalytische Therapie ist auf 300 Stunden begrenzt und oft geben die Krankenkassen „nur“ ein Ok für eine Behandlung 3-mal pro Woche. Einerseits ist es schon eine Menge, was den Patienten hierzulande angeboten wird. Aber es mangelt häufig noch an dem Bewusstsein, dass schwer traumatisierte Patienten eine intensive Beziehung zu einem Therapeuten brauchen – optimal wäre es, wenn die Patienten vier, fünf oder sechs Termine pro Woche über mehrere Jahre in Anspruch nehmen könnten. Der Psychoanalytiker Richard Reichbart war einst selbst psychotisch – ihn führte die vierjährige psychoanalytische Therapie mit anfangs sieben Terminen pro Woche zurück ins gesunde Leben (Richard Reichbart: The Anatomy of Psychotic Experiences, IPBooks, 2022, S. 34).

Wir können nicht alles aus uns selbst heraus – wir brauchen Beziehung

Eine hochfrequente Einzeltherapie könnte vielen psychisch schwer leidenden Menschen helfen. Auch, wenn das Geld fehlt – wichtig wäre erst einmal, dass mehr öffentlich darüber diskutiert wird, was die Betroffenen brauchen: ein intensives ambulantes Therapieangebot und das Wissen darüber, dass psychotische Menschen tatsächlich über eine psychoanalytische Psychotherapie wieder gesunden können. Darüber schreiben z.B. Richard Reichbart, Catherine Penney oder Joanne Greenberg („Take these broken wings“, Youtube) und der Psychoanalytiker Daniel Dorman.

Viele psychotische Menschen haben wahrscheinlich schwere frühe Traumata erlitten. Manche zeigen selbst oft erstaunlich wenig Angst, weil sie die Angst durch wahnhafte „Sicherheiten“ ersetzt haben. Mitunter waren sie zuvor von Ängsten geplagt, während ihre Mütter erstaunlich wenig Angst hatten. Die Mütter waren oftmals nicht „empathisch“, sondern sie sagten, sie wüssten „sicher“, wie ihr Kind sich fühlt. Viele Betroffene brechen mit dem Beginn oder Abschluss eines Studiums zusammen. Auch ein Verlassenwerden oder der Verlust eines wichtigen Menschens kann ein typischer Auslöser einer psychotischen Krise sein.

Zusammenhänge wie diese können in der hochfrequenten Psychotherapie bearbeitet werden, denn die Seele des Menschen formt sich mithilfe eines anderen Menschen. Und dass es immer so „teuer“ sein soll, ist oft fraglich: Patienten in der Psychoanalyse fühlen sich oft so gut gehalten, dass sie wieder in die Arbeit zurückfinden.

Auch der Körper wird gesünder

Patienten in einer Psychoanalyse erleben häufig, dass sich ihr körperliches Befinden verbessert. Sie brauchen aufgrund der intensiven Begleitung oft keine Medikamente. Die Veränderungen sind tiefgreifend und nachhaltig – weniger Aufenthalte in psychiatrischen und internistisch-chirurgischen Kliniken sind die Folge (siehe Karin Bell und M.B. Buchholz: Die psychoanalytischen Therapieverfahren – ihr Einsatz in der vertragsärztlichen Versorgung, PDF). Haben die Betroffenen Kinder, ist denen gleich mitgeholfen, denn die hochfrequente Psychotherapie ermöglicht der Mutter/dem Vater, besser als Mutter/Vater zu funktionieren.

Wir können nicht jeden retten, das ist klar und oftmals schwer auszuhalten. Doch viel wäre schon gewonnen, wenn der Gedanke „mehr Einzelgespräche pro Woche über längere Zeit“ nicht reflexartig verdrängt würde, denn im Bewusstsein vieler Patienten und Therapeuten ist er schon lange.

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Literatur:

Lindon, John A. (1994):
Gratification and Provision in Psychoanalysis Should We Get Rid of “The Rule of Abstinence”?
Psychoanalytic Dialogues, 1994, 4 (4): 549-582
https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/10481889409539038

Garrett, Michael (2019):
Psychotherapy for psychosis: Integrating cognitive-behavioral and psychodynamic treatment.
New York: Guilford

Nettis, Maria Antonietta et al. (2019):
Early-Life Adversity, Systemic Inflammation and
Comorbid Physical and Psychiatric Illnesses of Adult Life
Neuroinflammation and Schizophrenia pp 207–225
https://link.springer.com/chapter/10.1007/7854_2019_89

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 12.4.2018
Aktualisiert am 18.9.2023

2 thoughts on “Wir brauchen mehr hochfrequente Psychotherapien für frühtraumatisierte und psychotische Menschen

  1. Dunja Voos sagt:

    Liebe Melande,

    Rückmeldung an die Therapeuten geben einerseits die Patienten, andererseits das eigene Gefühl des Therapeuten und auch die Kollegen, wenn der Therapeut in Supervisionen, Intervisionsgruppen, Balintgruppen etc. eingebunden ist. Ein Therapeut kann nach der Stunde oftmals genau wie der Patient sagen: „Das war eine ‚gute‘ oder eine ’schlechte‘ Stunde und das ‚Gut‘ oder ‚Schlecht‘ misst sich quasi an der Zufriedenheit mit der emotionalen Begegnung.

    Ihr Gefühl, nämlich dass sich der Therapeut nicht gut einfühlen konnte, ist immer wieder auch Thema von Seminaren für Psychotherapeuten/Psychoanalytiker. Das Sich-nicht-Einfühlen-Können kann so stark sein, dass ein Patient eine Psychoanalyse auch abbrechen kann.

    Auf der anderen Seite gibt es Patienten, die bei so uneinfühlsamen Eltern groß geworden sind, dass sie beim Analytiker „Uneinfühlsamkeit“ erleben, obwohl der Analytiker selbst viel Einfühlung verspürt. Hier kann dann auch die Übertragung stark am Werk sein.

    Ein großes Problem ist, dass die meisten Psychotherapeuten zu wenig Selbsterfahrung in Anspruch nehmen. Psychoanalytiker sind aufgrund der Ausbildung dazu verpflichtet, relativ viele Stunden Lehranalyse zu machen (bei der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung z.B. 600 Stunden). Durch diese Selbsterfahrung wächst das Einfühlungsvermögen enorm. Fehlt es dem Psychotherapeuten an guter Selbsterfahrung, kann man manchmal eine regelrechte „Psychophobie“ feststellen: Er stoppt den Patienten, bevor dieser überhaupt zu seinen wichtigsten Verletzungen vordringen kann, weil er selbst Angst hat, vor dem, was da zum Vorschein kommen könnte.

    Gute Therapeuten zu finden, bei denen es wirklich passt, ist oft eine schwierige Aufgabe und hat manchmal auch mit Glück zu tun.
    Lesetipp: Jeffrey Moussaieff Masson: Final Analysis.

    Viele Grüße, Dunja Voos

  2. Melande sagt:

    Liebe Frau Dr. Voos.
    Das hört sich alles so schön an für mich. Ich hätte auch dringend eine psycholanalytische Therapie benötigt. In meiner (Groß-) Stadt habe ich eine solche aber nicht gefunden. Stattdessen einen 65-jährigen Arzt/Psychoanalytiker (von der Grundausbildung aus), bei dem ich schnell einen Platz für eine tiefenpsychologisch fundierte Pschotherapie bekommen habe, nun nach 50 Stdn. einml pro Woche diese Therapie beendet habe. Mit ganz viel Fragen/Irritationen, was ….das denn wohl für eine Therapie gewesen war. Er hat die ganzen 50 Min. die ruhige gleichschwebende Aufmerksamkeit perfekt aufrechterhalten; an seinen Antworten zu meinen oft verzweifelten Berichten und Gefühlszuständen habe ich aber erkannt, dass er sich NICHT in mich einfühlen konnte.

    Frage: Wer gibt einem langjährig tätigem Psychotherapeuten Rückmeldungen/Kritik/Anregungen/Zusicherung u.s.w., dass er (noch) „ein guter Therapeut ist“, der den Bedürfnissen und Erfordernissen seiner Klienten/Patienten gerecht wird?

    Es fehlt in unserer Gesellschaft SEHR an solchen Terapien/Therapeuten, von denen man nach Lesen Ihrer fabelhaften Beiträge eine Vorstellung bekommt.

    Liebe Grüße
    Melande

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