Ich-Stärke entwickeln – die Auseinandersetzung mit sich selbst ist eine lebenslange Aufgabe
Das „Ich“ ist die steuernde Instanz in uns. Bildlich gesprochen liegt es zwischen Es und Über-Ich. Von unten kommt das „Es“ mit seinen Trieben. „Ich habe Hunger!“, schreit es. Von oben kommt das „Über-Ich“ mit seiner Moral: „Du kannst jetzt nicht mitten im Konzert etwas essen!“, flüstert es. Das Ich sagt: „Nach dem Konzert werde ich etwas essen gehen.“ Es kann aber auch sein, dass man den ganzen Tag nichts gegessen hat und man sich im Konzertsaal auf einmal schlecht fühlt. Der Hunger „überkommt“ einen, der Körper reagiert. Man geht raus, um eine Kleinigkeit zu essen. „Das Ich ist zu allererst ein Körperliches“, sagte Sigmund Freud.
Das Ich und der Körper hängen eng zusammen. Wir können uns selbst dann am besten steuern, wenn es uns körperlich gut geht. Sind wir übermüdet, sieht schon alles anders aus.
Das gequetschte Ich
Wenn wir ein sehr starkes Über-Ich haben, dann können wir uns kaum etwas erlauben. Viele Psychoanalytiker haben über das „grausame Über-Ich“ geschrieben und es ist nahe verwandt mit unserem Ich-Ideal. „Das Ichideal zeigt dann eine besondere Strenge und wütet gegen das Ich oft in grausamer Weise“, schrieb Sigmund Freud (Die Abhängigkeiten des Ichs, 1923, Projekt Gutenberg).
Im Alltag kann das so aussehen: „Ich erlaube mir niemals, während des Konzerts auf Toilette zu gehen!“ Manche kollabieren, weil sie ihre körperlichen Bedürfnisse so sehr unterdrücken. Es können auch Zwänge entstehen, wenn das Über-Ich zu stark wird: Manche lesen zwanghaft in der Bibel oder müssen sich ständig die Hände waschen, weil sie sich irgendwie schuldig fühlen – sie wollen sich von der Schuld befreien. Doch oft können wir uns selbst gar nicht kontrollieren: Wenn wir an Reizdarm leiden, sind wir gezwungen, auf die Toilette zu gehen, sobald der Druck da ist. In solchen Fällen hat das „Ich“ nicht viel zu sagen – es wird sozusagen von den körperlichen Zwängen „gequetscht“ und hat keinen Spielraum mehr.
Das „Ich“ fühlen wir vielleicht besonders in der Brust. Wenn ich sage: „Ich!“, dann zeige ich mit meinem Finger auf mein Brustbein (Sternum). Oder wir sagen: „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust.“ Zudem bedeutet „schizophren“ „gespaltenes Zwerchfell“, denn die alten Griechen dachten, dass die Seele im Zwerchfell sitzt.
Realitätsprüfung und mehr
Das „Ich“ ist aber auch die Instanz, die wahrnimmt, die uns sagt, ob wir wachen oder träumen. Wir können die Realität meistens von der Phantasie unterscheiden. Wenn wir sehr aufgebracht sind, ist das schwieriger. Manchmal bekommen wir es gar nicht mit, dass unsere Phantasie stärker ist als der Realitätssinn: Wir befürchten, von unserem echt blöden Chef streng gerügt zu werden, dabei ist er gar nicht so streng. Das Ich bemerkt auch, was innen und was außen ist. Aber auch hier können wir uns vertun, wenn wir gestresst sind oder wenn wir sehr streng mit uns selbst sind: „Ich bin gar nicht wütend, DU bist wütend!“, schreien wir wütend und projizieren unsere Wut auf den anderen.
„Das will ich!“ Wenn wir unseren Willen deutlich spüren, ist unser Ich stark. Wir ballen unsere Fäuste und spüren uns. Wenn wir einschlafen, schläft auch das Ich. Und dennoch werkelt es an unseren Träumen mit.
Ich bin gut
Das Ich will gut bleiben und versucht, sich zu schützen. Bei psychischen Störungen ist das Ich geschwächt und sehr stark mit der „Abwehr“ von unerwünschten Regungen beschäftigt. Ich will eben nicht die Böse sein, daher verdrehe ich alles so, dass ich als die Gute erscheine – auf Kosten des anderen. Manchmal ist das Ich aber auch zu geschwächt, um Unerwünschtes abwehren zu können. Dann können wir mit großer Angst reagieren, weil wir den „Zusammenbruch der Abwehr“ spüren. Im Rahmen einer Psychoanalyse ist dieser Zusammenbruch jedoch oft ein wichtiger Schritt, um sich weiter zu entwickeln. Wenn ich meinen Neid, meine Hilflosigkeit oder meine Machtwünsche nicht mehr abwehren kann, dann spüre ich sie genau und kann mich damit auseinandersetzen.
Was stärkt das Ich?
Das Ich wird gestärkt durch gute Beziehungen, durch körperliche Fitness (auch Muskelkraft gehört dazu) und durch eine gute Selbstkenntnis. Wenn wir Denken und Handeln unterscheiden können, wenn wir eine Grenze zwischen uns und dem anderen empfinden, dann kann das Ich stark sein: Ich nehme beispielsweise wahr, wenn ich „böse“ bin, also z.B. rasende Wut empfinde, aber ich weiß auch, dass ich deswegen den anderen nicht verletzen muss, sondern meine Impulse steuern kann.
Diese Fähigkeit, die Impulse zu steuern, entsteht über die gute Beziehung zu einem anderen Menschen, der uns versteht.
Wenn wir als Baby eine Mutter und einen Vater hatten, die gut mit uns kommunizieren konnten, können wir unsere Impulse besser steuern, als wenn wir in unseren ersten Lebensmonaten und -jahren mit unseren Gefühlen überwiegend unverstanden blieben. Doch niemand hatte eine perfekte frühe Kindheit. Neugier auf sich selbst und die Welt sind gute Voraussetzungen, um das Ich nachreifen zu lassen.
Der Maler Gérard Garouste hat sich selbst aus seiner Psychose heraus entwickelt durch Kunst und durch das Lesen alter, weiser Schriften (insbesondere des Talmuds) mithilfe eines Lehrers (Wahn und Wahrheit, Dokumentation, arte 2020).
Auch kann es helfen, den Körper zu schulen, indem man ernsthaft mit einem „Sport“ anfängt, z.B. TaekWonDo, Yoga oder auch Handball – was immer Dir liegt. Du kannst Deine Stimme durch Gesangsunterricht (auch Youtube-Videos) schulen, denn Deine Stimme sagt viel über Deine Persönlichkeit (Per-sona, sonus = lateinisch: der Ton, Laut) aus. Ein Musikinstrument bei einem guten Lehrer zu lernen, ist ebenfalls eine wunderbare Möglichkeit, sein Ich zu stärken. Finde etwas, das Du gut kannst und gerne machst und weiterentwickeln möchtest. Das braucht oft sehr viel Zeit – manche Menschen finden erst in der Mitte oder gegen Ende ihres Lebens ihre Leidenschaft und werden noch in späten Jahren Schauspieler, Künstler, Schriftsteller oder Psychoanalytiker.
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Dieser Beitrag wurde erstmals verfasst am 3.12.2017
Aktualisiert am 21.6.2023