Zu viel des Guten – wenn Gutes plötzlich kippt
„Immer, wenn ich mich wohlfühle, bekomme ich plötzlich Angst“, sagen wir vielleicht manchmal. Oder: „Ich bin morgens oft gut gelaunt und dann, ganz plötzlich, fühle ich mich wieder unzufrieden.“ Bei genauerem Hinsehen lässt sich oft erkennen, was die Stimmung umschlagen ließ. Doch wenn wir ein psychisches Leiden haben, finden wir eben oft keine Erklärung dafür. Die Ursachen liegen oft schon in der Kindheit. Wenn ein Baby Hunger hat und nach der Mutter schreit, dann beruhigt es sich, wenn es etwas zu essen bekommt. Es kommt dann der Punkt, an dem es satt und zufrieden ist. Die gesunde Mutter erkennt das, nimmt Abstand und lässt das Kind in Ruhe. Wenn es hier an Feinfühligkeit fehlt, überfüttert sie das Kind vielleicht. Aus der „guten Brust“ wird sozusagen eine „verfolgende Brust“, um es mit Worten der Psychoanalytikerin Melanie Klein (1882-1960) auszudrücken. Das, was zuerst gut war für das Baby, die Nahrung, wird zum verfolgenden Fluch.
Alles Gute kann zum Bösen werden. Wir wünschen uns Berührung und Zärtlichkeit, doch wenn der andere nicht erkennt, wenn wir genug haben, wird es unangenehm. Bekommen wir zu viele gute Nachrichten oder gab es ein paar gute Feiertage hintereinander, dann fühlen wir uns merkwürdig übersättigt. „Ich habe bestanden, aber nach der Prüfung fiel ich in ein tiefes Loch“, sagen wir vielleicht manchmal. Auch das Gute will verdaut werden. Wir können gut mit dem Guten umgehen, wenn es „häppchenweise“ kommt, oft aber nicht, wenn es uns überschüttet – da besteht kaum ein Unterschied zu den Frustrationen: Wir werden gut mit ihnen fertig, wenn es nicht zu viele werden.
’n bisschen was Bitteres
Im guten Zustand fühlen wir uns wohl. Wird es aber „zu viel des Guten“, dann streben wir ebenfalls wieder zurück zum Gleichgewicht. Manche führen sich dann bewusst oder unbewusst etwas Schlechtes herbei. Bitterstoffe können Speisen verfeinern. Manche Menschen haben als Kind oft ein Verwöhntwerden erlebt, das sie unglücklich machte. Manche haben erfahren, wie aus Zärtlichkeit Übergriffigkeit wurde. Solche oder ähnliche Erfahrungen haben wir vielleicht auch gemacht. Sobald wir etwas Gutes erleben, stellt sich rasch die merkwürdige Angst ein, dass das Gute plötzlich verfolgend wird und in etwas Schädliches kippt.
Zu den schwierigsten Dingen im Leben gehört es, das Glück gut in den Händen zu halten und es zu „ertragen“.
Der fade Beigeschmack des erfüllten Wunsches
Auf einmal fühlen wir uns nicht mehr frei. „Ich hatte mir immer einen Hund gewünscht und als er da war, freute ich mich auch zuerst. Aber dann wurde er zu einer furchtbaren Last.“ Auch so etwas kennen wir vielleicht. Wir wollen vielleicht so gut zu unseren Tieren, Kindern oder unserem Partner sein, dass wir uns völlig verausgaben. Das kann dann in Erschöpfung und Wut umschlagen. Aus unserem Wollen und Wünschen ist ein „Müssen“ geworden.
„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ – es ist wichtig, sich darüber bewusst zu sein, dass der Anfang wirklich etwas ganz Besonderes hat. Die Kunst ist es dann, auf gute Weise einen Abstand zu bewahren, damit man sich das Gute auch noch angucken kann, ohne dass es zum Ungeheuer wird und einen auffrisst. Es liegt oft auch ein bisschen Desillusionierung und Enttäuschung kurz hinter dem Neuanfang. Diese Dinge auszutarieren, ist oft nicht so leicht.
Verfolgt von der eigenen Gier
Das Abwesende verursacht in uns eine Sehnsucht, die so groß werden kann, dass wir uns vom Abwesenden oder von unseren Sehnsüchten „verfolgt“ fühlen. Wir müssen immer daran denken, was uns fehlt. Wenn wir dann das bekommen, was wir uns gewünscht haben und es passt nicht ganz, dann entsteht wiederum Gier. Wir wollen es 100%ig passend machen! Dabei wäre es doch interessant, die Unterschiede zu spüren zwischen den „hundert Prozent“ und dem, was wir bekommen haben. Wir wollen dann immer mehr haben, weil wir glauben, dass es uns besser ginge. Besser geht es uns aber, wenn wir das interessante Gefühl der „Frustration des Unterschieds“ erkunden. Der Unterschied lässt uns spüren, wer wir selbst sind. Manche Menschen glauben, dass man hier auf Erden nie „richtig satt“ werden könne und wirkliche Erfüllung nur „im Himmel“ finde.
„Es ist nie genug“, davon sind manche überzeugt.
Doch viele machen die Erfahrung, dass es die Erfüllung auch hier und jetzt gibt: Es gibt den richtigen Partner, es gibt die Liebe, die erfüllt, und es gibt Beziehungen, Speisen, Natur, Aufgaben, Gespräche und andere Dinge, die satt machen. Wo nichts mehr fehlt. Wo wir uns Eins fühlen mit uns selbst und dem anderen. Und wo auch nichts mehr umschlägt. Es sind oft nur kurze Momente, aber oft auch längere Lebensphasen.
„Wissen Sie, das Alter ist für mich der schönste Lebensabschnitt. Diese tiefe, anhaltende Zufriedenheit … Das habe ich früher so nie empfunden“, sagt mir eine 80-Jährige im Schwimmbad. Ich glaube es ihr sofort.
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Dieser Beitrag erschien erstmals am 7.11.2017
Aktualisiert am 23.10.2023
2 thoughts on “Zu viel des Guten – wenn Gutes plötzlich kippt”
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Liebe Sonja, vielen Dank Ihnen für’s Lesen und Ihren Kommentar. Es macht viel Freude, die Dinge hier „auf’s Papier“ zu bringen :-)
Herzliche Grüße, Dunja Voos
Vielen Dank für diesen wunderbaren Text. Ich bewundere Ihre Fähigkeit interessanten Fragen auf den Grund zu gehen und Sie spannend-anregend „aufs Papier“ zu bringen.