Das Drei-Uhr-Morgens-Phänomen: das Gefühl, sofort handeln zu müssen
„Ich steh jetzt auf und schreib‘ dem sofort eine E-Mail!“, denkt die Mutter im Sorgerechtsstreit. Auch andere, sehr drängende Gedanken, Angst und furchtbare Gefühle können sich nachts breitmachen. Wenn es zwischen zwei und vier Uhr morgens ist, ist es, als seien alle Probleme unter einer Riesen-Lupe. Wir fühlen uns völlig eingequetscht von allen Anforderungen, inneren Bildern, von Wut und Bedrohungen. Alles scheint uns zu überwältigen. Und alles scheint auf der Kippe zu stehen. Als stünden wir vor dem Abgrund oder vor einer fürchterlichen Katastrophe.
Wir führen unsere Gefühle und Anspannungen normalerweise durch Bewegung ab. Wenn wir nachts unbeweglich sind, dann wachsen die Sorgen allein schon durch das Liegen im Bett.
„Sofort!“ kann warten
Wir malen uns nachts aus, wie wir bald handeln müssten – wir wollen etwas zerstören, wir wollen uns rächen, wir wollen anderen weh tun, flüchten, absagen, wir wollen wiedergutmachen, alles verändern. Man hat das Gefühl: „Wenn ich nur noch eine Sekunde länger warte, dann passiert etwas ganz Schlimmes!“
So viele Situationen in unserem Leben sind wirklich haarig – besonders Rechtstreitereien, das Warten auf medizinische Befunde, Ärgernisse, zerreißende Geldsorgen, Angst um unsere Kinder, unsere Arbeit oder unsere engsten Beziehungen können uns dazu bewegen, sofort zu handeln, irgendeine E-Mail zu schreiben, irgendwo anzurufen.
Die Angst ist das Problem
Es ist die Angst, die das Problem ist. Wenn wir Jahre später auf unsere brenzligen Situationen zurückschauen, sehen wir, dass wir mehr Platz hatten, als wir dachten. Wir bereuen oft unser reflexhaftes Handeln und wir sehen, dass die Katastrophen meistens nicht eingetreten sind, auch, wenn man immer wieder in katastrophale Situationen gerät (z.B. in der Zeit, in der die Kinder noch klein sind oder Kinderwünsche nicht in Erfüllung gehen oder/und die Geldsorgen einen zerreißen).
Wichtig ist es, dieses Gefühl des „Gequetschtseins“ zu spüren und sich damit sozusagen selbst in den Arm zu nehmen. Die Auswegslosigkeit wird irgendwann enden.
Atmen, meditieren, beten, Hund kraulen, Tee trinken
Das Beste ist es oft, erst einmal nichts zu machen, wenn die Anspannung so riesengroß ist. „Die hat gut reden – wenn die meine Probleme kennen würde, dann wüsste sie, dass es Situationen gibt, in denen man sofort handeln muss“, werden Sie vielleicht sagen. Ja, man fühlt sich immer wieder so. Besonders häufig betroffen sind Menschen, die nicht auf eine Familie zurückgreifen können und/oder die schon früh in ihrer eigenen Familie traumatisiert wurden. Sie leben oft mit relativ geringen Ressourcen und sind oft auf sich allein gestellt. Das macht es immer wieder schwer. Es ist eine hohe Kunst, einen Umgang damit zu finden. Die Suche dauert oft lange und man kann nur Schrittchen für Schrittchen gehen. Die Zeit muss man sich gönnen.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 18.2.2017
Aktualisiert am 18.5.2020
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