„Selbst schuld“ am sexuellen Missbrauch?
Nein. Natürlich nicht. Kinder, die sexuell missbraucht wurden, haben keine Schuld daran. Doch wie ist das Schuldgefühl zu erklären, das viele Betroffene als Erwachsene belastet? Wer Kinder genau beobachtet, stellt immer wieder fest, dass schon bei den Kleinsten sexuelle Gefühle vorhanden sind. Schon Kleinkinder beginnen, sich in Anfängen selbst zu befriedigen. Kleine Mädchen entdecken, dass sie Mädchen sind und dass sie „schön“ sind und beginnen zu flirten. Jungs zeigen gerne, „was sie alles haben“. Kinder können sich Erwachsenen auf eine gewisse Art „sexuell“ annähern. Es liegt dann am Erwachsenen, „Nein“ und „Stopp“ zu sagen oder das Kuscheln, das „zu viel“ wird, mit Kitzeln und Toben zu beenden.
Das eigene Übersprudeln macht das Schuldgefühl
In gesunden und lebensfrohen Kindern entwickelt sich auch die Sexualität. Das große Problem ist dann, wenn ein Erwachsener das ausnutzt und seine eigenen sexuellen Bedürfnisse „mithilfe“ des Kindes befriedigt. Wenn der Erwachsene das in einer Phase tut, in der das Kind sich selbst gerade „entdeckt“, dann vermischen sich die Gefühle und Gedanken beim Kind. Weil es vielleicht selbst ja auch gerade „sexuell erregt“ war und in diesem Moment vom Erwachsenen ausgenutzt wurde, hat es das Gefühl, selbst der Motor des Geschehens gewesen zu sein.
Schuldgefühl erwächst aus Hilflosigkeit
Andere Kinder wiederum haben erlebt, dass sie dem Geschehen vollkommen hilflos ausgeliefert waren. Diese große Ohnmacht auszuhalten, ist sehr schwer. Dann wehren die Betroffenen diese Ohnmachtsgefühle ab, indem sie sich sagen: „Irgendwie war ich ja auch selbst schuld“ – diese Sichtweise gibt ihnen ein gewisses Gefühl von „Eigen-Aktivität“. Die Schuldgefühle sind dann in gewisser Weise leichter erträglich als das vollständige Ohnmachtsgefühl. Das ist ähnlich wie in Situationen, in denen ein geliebter Mensch stirbt. Die verlassenen Angehörigen sagen dann: „Hätte ich doch nur dieses oder jenes …“ – sie suchen bei sich die „Schuld“, um sich nicht vollkommen ohnmächtig zu fühlen.
Kinder fühlen sich anstelle der Eltern schuldig
Manche Kinder übernehmen auch die fehlenden Schuldgefühle der Eltern. Sie fühlen sich sozusagen anstelle der Eltern schuldig und „erledigen“ das für sie. Die Eltern haben ihr eigenes Schuldgefühl abgewehrt und unbewusst auf die Kinder übertragen.
Schuldgefühle für die eigene „Lebendigkeit“
Ich glaube jedoch, der entscheidende Punkt ist die „eigene Sexualität“ der Kinder, die ihnen das Schuldgefühl vermittelt. Sie fühlen sich unbewusst bereits für die Tatsache schuldig, dass sie ein vollwertiges Mädchen oder ein vollwertiger Junge sind. Sie fühlen sich schuldig, für die eigene, lebendige Sexualität in ihnen. Wäre die nicht gewesen, so glauben sie, hätte der Missbrauch nicht stattgefunden.
Manchmal sagen die Betroffenen auch: „Als Kind wollte ich das ja selber!“ Dieses Gefühl macht ihnen oft das größte Schuldgefühl. Dabei war dieser Impuls, dieses „Selbst-Wollen“, ja eine gesunde, natürliche Regung im Kind. Dass der Fehler beim Erwachsenen liegt, der nicht „Stopp“ gesagt hat, ist für sie nur schwer zu fühlen.
Schuldgefühl durch Aufklärungsbroschüren
Es gibt viele Formen sexuellen Missbrauchs und sexueller Gewalt. Manche Betroffenen fühlen sich auch dafür schuldig, dass sie ihren Missbrauch eben nicht als „Gewalt“ erlebt haben, sondern teilweise als etwas sehr Lustvolles. Dann schämen sie sich dafür, dass sie mit dem Begriff „sexuelle Gewalt“ nichts anfangen können, obwohl er doch in den Broschüren der Beratungsstellen steht. „Fühle ich falsch?“, fragen sie sich und fühlen sich allein dafür schuldig.
Die Verwirrung aufräumen
Missbrauch ist immer verwirrend und komplex. Das Kind liebt ja oft den Vater (den Opa, den Onkel, den Bruder, den Freund …), der es missbraucht – und hasst ihn. Der Junge liebt die Mutter (die Oma, die Tante, die Lehrerin), die ihn missbraucht – und hasst sie. Die Gefühle sind sehr gemischt. Ein Kind, das keine Liebe von der Mutter erfährt, nimmt die „Zuneigung“ des Vaters bis zu einer gewissen Grenze „gerne an“. Natürlich ist das verwirrend, weil die „Zuneigung“ des Vaters in dem Moment ja Egoismus ist und ein Zeichen dafür, dass er selbst bedürftig ist. In dem Moment verliert das Kind den Vater. Die Rollen sind vertauscht, es ist nicht mehr klar, wer erwachsen ist, wer Kind, wer Partner ist, Täter oder Opfer, was Liebe ist und was Eigennutz, wer „es“ nun eigentlich wollte und wer nicht. Diese Verwirrung führt zu Schuldgefühlen. Die Betroffenen wollen mit ihrem Schuldgefühl unbewusst eine Art „innere Klarheit“ schaffen. Oftmals verringern sich die Schuldgefühle der Betroffenen erst, wenn sie das Erlebte in einer Psychotherapie bearbeiten.
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