Gefühle nicht benennen zu können, ist auch ein Stück weit normal

Affekte könnnen wir leicht benennen: Wenn uns die Hutschnur hochgeht, spûren wir unsere Wut. Unerwünschte Gefühle wahrzunehmen ist schon schwieriger: In der engen Freundschaft möchte ich meinen Neid nicht spüren, doch ich kann lernen, ihn nicht gleich wegzuschieben. Trauer, Wut, Neid, Ekel, Angst und Freude sind Emotionen und Affekte, die wir oft leicht benennen können. Doch was sagst Du, wenn Du gefragt wirst: Was fühlst Du jetzt? Wie sollst Du beschreiben, was eigentlich ist, wenn „es“ wieder da ist, wenn Du Gefühle hast, die keinen Namen haben?

Oft leben wir einfach vor uns hin, doch zwischendurch nehmen wir sozusagen eine „Innenmessung“ vor (Dank an Walter von Lucadou für die Inspiration). Manchmal können wir sagen, was wir gerade fühlen, sehr oft aber auch nicht. So, wie die Inuits wohl sehr viele Worte für die vielen Arten von Schnee haben sollen, so müssten wir eigentlich auch sehr viele Worte für die vielen Arten von Gefühlen in uns haben. Haben wir aber nicht.

„Ich fühle mich so tzzzzz!“, sage ich manchmal, wenn ich ganz merkwürdig angespannt bin. Diesen Ausdruck verdanke ich einem guten Freund im Studium, der mich vor einem Anatomiekurs einmal so beschrieb – dabei gestikulierte er so mit den Händen, als liefe Strom dort hindurch. Ich fühlte mich sehr gut verstanden – gleichzeitig beunruhigt ich es mich manchmal, dass ich trotz psychoanalytischer Ausbildung oft nicht anders kann, als zu sagen: „Ich fühle mich so tzzzz!“ Immer wieder legte ich mir das als eine Art Schwäche oder Gefühlsblindheit aus. Erst nach vielen Jahren konnte ich sagen: Das ist normal.

Wir haben nicht nur klassische, benennbare Gefühle, sondern auch Körper- und Seelenzustände, für die es keine Worte ist. Natürlich wissen wir das – wir wissen, dass wir das Wortlose in der Kunst, in der Musik, in der Poesie finden. Und doch zweifeln wir vielleicht manchmal an uns selbst, wenn wir „schon wieder“ nicht sagen können, was wir eigentlich fühlen. Vielleicht hilft es, sich zu verdeutlichen, dass Gefühle immer auch mit Körperzuständen verbunden sind. Und diese können wir oft nur durch Bildbeschreibungen oder Laute verdeutlichen.

Wenn wir beschreiben wollen, wie sich eine volle Blase, ein Orgasmus oder eine Übelkeit anfühlen, dann können wir das eigentlich nur in Bildern tun: Es ist, als ob sich ein See zwischen Mauern ausbreitet, wenn unsere Blase voll ist. Es drûckt. Und so lassen sich auch unsere Traumbilder verstehen: Die Bilder drücken aus, wozu uns die Worte fehlen. Und wenn Du Dir das nächste Mal damit Druck machst, dass Du doch eigentlich sagen können müsstest, was Du fühlst, dann kannst Du Dich vielleicht damit beruhigen, dass das Nicht-Benennenkönnen eben allzu oft auch ganz normal ist.

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Schreibe einen Kommentar