Namenlose Angst hat keinen Platz: Darum helfen Fernsehbeiträge über Angststörungen uns oft nicht
Als Studentin hatte ich eine saftige Angststörung. Ich weiß genau, wie sich Panikattacken und frei flottierende Angst anfühlen und wie extrem schwierig es für mich war, Boden unter die Füße zu bekommen. Und dann höre ich in Fernsehsendungen, dass Angststörungen zwar extrem unangenehm, aber relativ gut zu behandeln seien. Autoren wie der Psychiater Borwin Bandelow (3SAT, Sternstunde Philosophie 2015) berichten davon. Doch wo finde ich Beschreibungen zu meiner Angst, die namenlos ist, wie Bion es nannte?
Worüber die Experten in den Medien oft sprechen, sind Ängste, die sich noch irgendwie beherrschen lassen oder die tatsächlich relativ leicht zu behandeln sind. Es sind oft Ängste „mit Grip“, wie ich es nenne: Da gibt es noch etwas zum Anfassen. Die Gedanken können die Gefühle nach etwas Übung wieder erreichen.
Doch bei der namenlosen Angst „ohne Grip“ haben Gedanken und „Bewertungen“ keinen Einfluss mehr auf das Geschehen. Gedankenanalyse und „Umdenken“ wirken so gut wie gar nicht. Die Angst kommt aus dem Unbewussten wie ein Reflex.
Angst nahe an der Furcht ist gut behandelbar
Bei den Ängsten, von denen in den Radiosendungen die Rede ist, haben die Betroffenen oftmals relativ konkrete Angstbilder. Sie wissen, wovor sie sich da fürchten – eine Spinnenphobie ist gut erklärbar. Relativ konkrete Ängste sind nahe an der „Furcht“. Die Furcht“ vor dem Tiger fühlt sich handfest an. Die Angst davor, eine Rede zu halten, mit dem Auto oder dem Aufzug zu fahren, ist da schon etwas „bodenloser“ – ein Schwebegefühl kommt hinzu.
Manche Betroffene können hier durch Übungen, durch Medikamente, Entspannungsübungen und Verhaltenstherapie genügend Hilfe finden, sodass sie einigermaßen gut mit ihrer Angst leben können oder sie sogar ganz verlieren.
Unverdauliche Ängste
Doch was ist mit der bodenlosen Angst „ohne Grip“? Es ist eine Angst, die uns scheinbar grundlos überfällt und verbunden ist mit einem Gefühl der unbestimmten Bedrohung, des Verlorenseins, der tiefen Sinnlosigkeit und/oder einer abgrundtiefen Einsamkeit. Auch die Menschen um uns herum können auf einmal bedrohlich wirken. Tief in uns bebt es. Weinen ist kaum möglich, dazu ist der Zustand zu schwebend und unbestimmt.
Diese Angst ist so groß, so unaushaltbar und so ohne Worte, dass wir vielleicht noch nicht einmal darüber sprechen können. Wenn wir gefragt werden: „Was hast Du?“, können wir nur sagen: „Ich weiss es nicht.“ Wir wollen uns vielleicht in ein ruhiges Zimmer flüchten, auf unsere Couch, in unser Bett. Wir haben das Gefühl, dass niemand diese Angst versteht. Die Realität scheint nicht mehr zu greifen – nichts und niemand scheint uns in diesem Moment beruhigen zu können. Was andere uns dann sagen, erscheint uns wie ahnungslose Oberflächlichkeit. Vielleicht haben wir sogar das Gefühl, dass unsichtbare Mächte uns im Griff hätten. Wir versuchen es mit Beten.
Diese sehr große Angst belastet meiner Erfahrung nach viel mehr Menschen als wir meinen. Es ist unglaublich schwierig, darüber zu sprechen. Jeder Therapieversuch ist die Suche danach, wirklich verstanden zu werden. Und wenn wir dann hören, dass eine Angststörung relativ leicht zu behandeln sei, fühlen wir uns völlig falsch und ratlos. Die sehr schweren Ängste wie z.B. bei der Psychose oder Schizophrenie seien sehr selten und etwas ganz anderes, so die Experten. Das glaube ich nicht.
Die Betroffenen denken verzweifelt: „Was mache ich bloß falsch?“ In den USA gibt es in den Nachrichten immer wieder Berichte über mögliche UFOs und Orbs. Die schwebende Angst, die entsteht, wenn wir uns solche Berichte anschauen, ist vielleicht mit unserer namenlosen Angst gut vergleichbar, denn es geht um das Unbekannte – um etwas Unbekanntes, das wir nicht begreifen können und das aus einer „anderen Dimension“ zu kommen scheint. Wieder ins Hier und Jetzt zurückzufinden und Bodenhaftung zu gewinnen, ist nicht immer leicht. Eine Gebetshaltung mit gefalteten Händen kann manchmal helfen, aber auch die Ujjayi-Atmung oder der Alltag: Der Wetterbericht, Staumeldungen, Fussball, Handwerk und Lenren können uns wieder ein Gefûhl von „Grip“ verschaffen.
Psychoanalytiker erklären solche namenlosen Ängste oft mit Traumata, die wir in der frühesten Lebenszeit erfahren haben. Der Begriff der „namenlosen Angst“ wurde von dem Psychoanalytiker Wilfred Bion geprägt. Er geht besonders auf die vorsprachlichen Seelenräume ein. Sprache und innere Ordnung verleihen uns einen Halt, doch die innere Ordnung muss erst einmal herrgestellt werden. Die unreifen psychischen Elemente werden in der Kommunikation mit er Mutter in reife, handhabbare Elemente transformiert/
Babys und Kleinkinder können extrem starke Ängste, ja Todesängste, haben – sie werden von Erwachsenen oft nicht verstanden. Auf Youtube sah ich einmal das Video eines Neugeborenen, das sich das erste Mal in seinem Krankenhausbettchen umsah. Man sah den Schrecken in seinen Augen – es fing angsterregt an zu schreien. Es sah aus, als hätte es gedacht: „Wo bin ich hier? Ich bin in einer Alien-Welt und will (da) gar nicht sein.“ Die belustigten Kommentare unter dem Vido waren Lichtjahre von dem entfernt, was das Baby möglicherweise wirklich fühlte. Auch wenn wir Kätzchen beobachten, wie sie ihren eigenen Schwanz entdecken, können wir die Angst und den Schrecken vor dem eigenen Körper, ja der eigenen Existenz gut beobachten.
Wenn wir als Baby keine ausreichend gesunde Mutter hatten, die unsere Ängste für uns und mit uns verarbeitete, wenn wir schon frûh Intrusives (Gewalt, medizinische Behandlungen) erlebten, leiden wir wahrscheinlich häufiger unter erschütternden, existenziellen Ängsten als andere Menschen, die solche Ängste vielleicht sogar gar nicht kennen.
Bilder und Worte fehlen als Anker
Ängste, die im vorsprachlichen Bereich auftreten, können wir auch später kaum in Worte fassen. Jede Angstattacke ist vielleicht auch eine Art „Erinnerung“ an diese frühen Ängste. Es gibt zwar keine bewussten Erinnerungen (in Form von Bildern und Worten) zu dem, was uns am Anfang des Lebens geschehen ist, doch wir können den Zustand körperlich und psychisch vielleicht wiedererkennen. „Da ist es wieder“, denken wir vielleicht. Vielleicht haben wir Angst, „verrückt“ zu werden – sozusagen verrûckt zu werden in eine frühere Zeit, als uns die Zusammenhänge noch fehlten.
Ein unreifes psychisches Element kann wie eine Bedrohung aus einem Horrorfilm erscheinen: Man weiß, dass da „was ist“, aber man kann es nicht zuordnen. Wenn wir von dieser Angst erzählen, benutzen wir häufig einfach das Wort „Das“ („Das kommt immer wieder. Das soll weggehen“).
„Es“ fühlt sich vielleicht an, wie „verrückt“ zu werden in eine andere Dimension, in ein anderes Erleben, bei dem der Kontakt zu sich selbst und anderen fehlt. Diese Ängste erscheinen „Psychose-nah“, ohne dass wir „wirklich verrückt“, also „psychotisch“ sind. Wenn uns das passierte, so meinen wir, dann wäre alles aus. Doch die Psychiatrie entwickelt sich weiter – zunehmend lassen sich auch Psychosen sehr oft mit psychischen und körperlichen Vorerfahrungen erklären und mittels intensiver Psychotherapie auch ohne Medikamente behandeln.
„Ich habe noch nie einen Schizophrenen gesehen, dessen Leben mich nicht genau so verrückt gemacht hätte wie ihn, wenn ich das erlebt hätte, was er erlebt hat.“ Bertram Karon (1930-2019)
Man möchte weglaufen, weiß aber nicht, wohin. Man fühlt sich vielleicht bröckelig. Zu diesem extremen Gefühl des Unwohlseins gibt es keine Sinnzusammenhänge, keine geschichtliche Einordnung, kein Narrativ. Psychoanalytiker sagen: Da ist etwas in der Psyche „nicht repräsentiert“. Im Laufe des Lebens können wir jedoch „Narrative“ bilden, also Erklärungen finden, die uns rückbinden an Verständliches, an Zusammenhänge, an wahrscheinlich Geschehenes.
Manche sprechen auch von „irrationalen Ängsten“, doch Ängste haben wahrscheinlich immer einen Grund. Innere Bedrohungen können sich gefährlicher anfühlen als äußere, reale Bedrohungen.
Repräsentation macht’s leichter
Eine Repräsentation in unserer Psyche ist so etwas wie ein inneres Bild, eine Vorstellung, eine Erinnerung. Zum Beispiel sind andere Menschen in uns als „innere Objekte“ repräsentiert. Wir können davon erzählen, welche Erfahrungen wir mit unseren Lehrern, unseren Eltern und Geschwistern gemacht haben. Immer jedoch, wenn ein „unreifes psychisches Element“ auftaucht, haben wir nur eine Ahnung. Wir bemerken etwas Unbekanntes, etwas Unheimliches. Wir stehen vor einem Rätsel und wir fühlen uns ohne Verbindung zu uns selbst und zu anderen. Wenn wir selbst einen guten psychischen Verdauungsapparat haben, kann dieses „Etwas“ langsam zu einem Bild oder zu einem Gefühl werden und wir können formulieren, was wir fühlen und denken. Wir spüren vielleicht „Verzweiflung“, können aber mit der Zeit verstehen, was uns verzweifeln lässt.
Bleibt das psychische Element weiterhin unreif, so bleibt es für uns quasi unerklärlich. Es ist, als würde da etwas in unserer Psyche „haken“. Und auch solche „unreifen Elemente“ sind zutiefst menschlich. Wenn wir z.B. an den Tod denken, dann tun wir uns vielleicht schwer mit inneren Bildern. Auch Begriffe wie „Ewigkeit“ oder „Nichts“ können zu einem „komischen Gefühl“ führen, weil es unsere Vorstellungskraft und Erklärungsmöglichkeiten übersteigt. Manchen hilft die Beschäftigung mit der Quantenphysik, weil es hier neue Bilder gibt, an die wir vorher noch nicht gedacht haben, die aber verstehen lassen und beruhigen können.
Traumatische Erlebnisse können uns die Sprache verschlagen
Wann immer wir psychisch überfordert sind, z.B. wenn wir etwas Traumatisches erleben, dann macht unsere Psyche so etwas wie einen „Leerlauf“. Wir finden zunächst keinen „Anhaltspunkt“ für unseren Zustand, keinen Anker, keine Erklärung, keinen Trost. Auch wenn wir als Erwachsene etwas Traumatisierendes erleben, sind wir häufig zunächst sprachlos. Erst, wenn etwas Zeit vergeht, wenn wir Worte und Vergleiche finden und wenn wir uns darüber mit jemandem austauschen können, dann kann die „Angst ohne Grip“ transformiert werden in etwas, was wir „begreifen“, verstehen und gut aushalten können.
Die Therapie der schweren Angststörung ist viel aufwendiger und erfordert viel mehr Geduld, als es uns die gängigen Beiträge über Angststörungen glauben lassen. Einer schweren Angststörung zu begegnen bedeutet oft, sich mit der tiefen Einsamkeit, die dahinter liegt, auseinandersetzen zu müssen.
Es hilft uns, wenn wir befähigt werden, eine tiefere emotionale Verbindung zu uns selbst, insbesondere auch zu unserem Körper, und zu anderen herstellen zu können. Das emotionale Band zum anderen ist es schließlich, dass die schweren Ängste auffangen und transformieren kann.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 31.5.2022
Aktualisiert am 8.1.2025
2 thoughts on “Namenlose Angst hat keinen Platz: Darum helfen Fernsehbeiträge über Angststörungen uns oft nicht”
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Liebe Frau Voos –
als langjährig Betroffene danke ich für Ihren Mut und ihre Klarheit im Denken und Ihren verantwortungsvollen Umgang mit Wissen. Einem Wissen über früh entstehende Ängste, das inzwischem jedem medizinisch-therapeutisch Tätigen bekannt sein dürfte – wenn dies dennoch bislang keine weitergehende Verbreitung und Anwendung gefunden hat, liegt das m.E. vor allem an der verdrängten Angst von Medizinern und Psychologen, die es vorziehen, mit einem Finger auf Menschen zu zeigen, die den Mut haben sich zu ihrer Angst zu bekennen. Die drei auf sie selbst verweisenden Finger ihrer Hand übersehen sie unter Anwendung verwirrenden Fachjargons oft bewußt und absichtsvoll, man könnte es auch gaslighting nennen.
In den zurückliegenden zwei Jahren ist durch das eilfertige Mittun vieler Mediziner eine Angst-evozierende Situation entstanden, in der GG-Einschränkungen und Anhäufung horrender Schuldenberge zur Normalität geworden zu sein scheinen. Leider beteiligen sich mit Unterstützung allgegenwärtig gewordener ‚Experten‘ hieran Medienschaffende, die klick- und obrigkeitsorientiert leichtfertig mit gravierenden menschlichen Belastungen hantieren, die häufig durch die vorgenannten Berufsgruppen erst überwältigende Ausmaße annehmen..
Deshalb nochmals DANKE für Ihre Klarheit und Bewußtheit und Ihren Mut.
alles Liebe für Sie
Karin Wienbreyer
Hallo Frau Voos,
naja Angst als positive Kraft zu bezeichnen, wie im Podcast geschehen, ist ja schon ein Euphemismus. Es gibt auch Menschen, die einem nach einem Missbrauch oder Uebergriff sagen, man solle den der missbraucht hat oder uebergriffig wurde, als Lehrmeister nutzen, denn man koenne ja etwas daraus lernen.
Ich halte von all dem nichts und es zeigt, dass man manches nur verstehen kann, wenn man es selbst erfahren hat. Manchmal denke ich sogar, dass diese (positiven) Umdeutungen nahe an einem Double Bind sein koennen. Mir persoenlich geht das mit diesen Umdeutungen zumindest oft so.
Wenn jemand etwas ganz banales macht und einen das triggert und man dann Matsch im Kopf hat, unendlich muede wird und eine Woche lang massives Kopfkino hat, so dass man aus dem Gruebeln nicht mehr heraus kommt und einen in dieser Zeit jedes Gerausch etc. pp zusammenschrecken laesst, dann ist das ja etwas, was man kognitiv in keiner Weise einordnen kann. Das einzige was man kognitiv umsetzen kann, ist, dass man offensichtlich massiv auf hab acht Stellung steht und meint in jedem Moment koenne etwas bedrohliches geschehen.
Also kann man es weder verstehen, noch oder schon gar nicht positiv nutzen. Das ganze ist einfach nur hoechst irrational.
Viele Gruesse
modean