Blicke können uns trösten, wärmen, anregen, stabilisieren, stören
Über den „Blick“ des anderen schrieb der Philosoph Jean-Paul Sartre (1905-1980). Interessant dabei ist, dass Sartre mit einem Auge normal blickte, während er mit dem anderen nach außen schielte. Vielleicht inspirierte ihn schon die eigene körperliche Eigenheit, sich mit dem Thema „Blick“ auseinanderzusetzen. Sobald uns ein anderer erblickt, werden wir uns unserer selbst bewusst. Der warmherzige Blick eines anderen Menschen kann uns trösten und er kann alles verändern. Mütter und ihre neugeborenen Babys schauen sich in einem Abstand von etwa 20 cm (Lowdermilk et al., 2013) an.
Wenn ich eine Sprache lernen will, geht es besser, wenn mich ein anderer anblickt und mich in seiner Sprache anspricht, als wenn ich allein über meinem Buch Vokabeln lerne. Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen fällt es schwer, Blickkontakt zu halten (z.B. Riby et al. 2012). Menschen mit bestimmten psychischen Störungen blicken einen hingegen sehr lange an. Psychotische Menschen fühlen sich oft von Blicken verfolgt und malen in der Ergotherapie häufig Bilder mit vielen Augen (https://www.medizin-im-text.de/2020/68589/die-entdeckung-der-augen/).
Britische Forscher konnten zeigen, dass der direkte Blick eines anderen das eigene Arbeitsgedächtnis stören kann (Wang J and Apperly A, 2017). Sie verweisen auch auf ähnliche Studien: „Nonetheless, other studies have found that maintaining eye contact or merely observing direct gaze hinders performance on cognitive tasks (Conty, Gimmig, Belletier, George, & Huguet, 2010; Markson & Paterson, 2009; Riby, Doherty-Sneddon, & Whittle, 2012)“ (Aus: Wang, Jessica J, Apperly, Ian A., 2016).
„Andere Studien fanden heraus, dass das Halten des Blickkontakts oder bereits nur das Wahrnehmen eines direkten Blicks die Durchführung von kognitiven Aufgaben behindert.“
Durchschnittlich schauen sich Menschen am liebsten für 3,3 Sekunden in die Augen: „We find that, on average, participants have a PGD (preferred gaze duration) of 3.3 seconds, consistent with earlier reports obtained in dyadic interactions.“ = „Wir fanden heraus, dass die Studienteilnehmer am liebsten für 3,3 Sekunden den Blick hielten, was mit früheren Studien über Interaktionen von zwei Menschen übereinstimmt“, sagen britische Forscher um Nicola Benetti, 2016, siehe: https://royalsocietypublishing.org/doi/10.1098/rsos.160086.
Blicke zwischen Patient und Therapeut können eine psychotherapeutische Beziehung und Behandlung fördern – sie können sie jedoch auch behindern. Daher hat die Couch in der Psychoanalyse ihren eigenen Sinn: Wenn der Patient auf der Couch liegt, sieht er nicht den Blick des Analytikers und kann freier denken, fühlen und assoziieren. Auch der Analytiker fühlt sich freier – er kann hinter der Couch seine Augen beim Fühlen und Denken schließen (Wozu die Couch?).
Der britische Wissenschaftler Rupert Sheldrake forschte an der Frage, ob wir bemerken, wenn uns Menschen z.B. von hinten anstarren. Während er selbst davon überzeugt ist, konnten wissenschaftliche Forscher in weiteren Experimenten dies nicht bestätigen (Lobach und Bierman, 2004).
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- Von Psychose Betroffene malen häufig viele Augen
- 72 Wie wird man Psychoanalytiker*in? Wozu die Couch?
Links:
Binetti, Nicola et al. (2016):
Pupil dilation as an index of preferred mutual gaze duration.
Royal Society Open Science
https://doi.org/10.1098/rsos.160086
https://royalsocietypublishing.org/doi/10.1098/rsos.160086
Farroni, Teresa et al. (2002)
Eye contact detection in humans from birth
Proc Natl Acad Sci U S A. 2002 Jul 9; 99(14): 9602-9605.
doi: 10.1073/pnas.152159999
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC123187/
Lobach, Eva and Bierman, Dick J. (University of Amsterdam, The Netherlands, 2004):
The invisible gaze: Three Attempts to replicate Sheldrake’s Staring Effects.
The Parapsychological Association Convention 2004, Proceedings of Presented Papers
https://www.researchgate.net/publication/242047913…
„Study 3 compared hitrates for bonded pairs (friends) with non-bonded (strangers) pairs. In neither condition, not the slightest sign of a staring effect could be established.“
Lowdermilk, Deitra Leonard et al. (2013):
Maternity Nursing – Revised Reprint
S. 422 Verlag Mosby
https://www.lehmanns.de…
Munono Muyembe, Bernard (oikumene.org)
Le regard et le visage
Peter Lang International Academic Publishers, 1991
goodreads
Riby, Deborah M. et al. (2012), Open Access:
Face-to-face interference in typical and atypical development
Developmental Science 2012 Mar;15(2):281-91.
doi: 10.1111/j.1467-7687.2011.01125.x.
https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1467-7687.2011.01125.x
Sartre:
Le regard des autres
Le Précepteur, https://youtu.be/BJIM41TnDHI
Sartre, Jean-Paul (1944):
Geschlossene Gesellschaft (Huis clos, l’huis = die Tür)
Rowohlt-Theaterverlag.de
Sartre, Jean-Paul:
Der Blick
Aus: Das Sein und das Nichts (L’être et le néant, 1943, S. 338-348)
https://philippe-wampfler.ch/…Sartre-Der-Blick.pdf
Sheldrake, Rupert (1999, 2005):
The „Sense of Being Stared At“ Confirmed by Simple Experiments
https://www.researchgate.net/publication/238777098…
„I describe a simple experimental procedure with subjects and lookers working in pairs. In a random sequence of trials, the looker either looked at the back of the subject, or looked away and thought of something else. Such experiments showed a very significant excess of correct over incorrect guesses.“
Wang, Jessica J and Apperly, Ian A. (2016):
Just one look: Direct gaze briefly disrupts visual working memory.
Psychonomic Bulletin & Review 24, 393-399 (2017)
Open Access
https://doi.org/10.3758/s13423-016-1097-3
https://link.springer.com/article/10.3758/s13423-016-1097-3
Strehle, Nina (2002):
Der Blick und das Schamgefühl in Jean-Paul Sartres Werk „Das Sein und das Nichts“
3: Der Blick
3.1 Was ist der Blick?
3.2 Was geschieht, wenn ich erblickt werde?
3.3 Die Anwesenheit des Anderen
Studienarbeit
Referat (Ausarbeitung), 2002, 16 Seiten
https://www.grin.com/document/7072
Wurmser, Leon (1986):
Die schwere Last von tausend unbarmherzigen Augen.
Zur Psychoanalyse der Scham und der Schamkonflikte.
Forum der Psychoanalyse 2: 111-133
https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-642-97459-5_7
Note: „Direct Gaze“ = „Eye Contact“
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 29.7.2021
Aktualisiert am 1.2.2025