98 Wie werde ich Psychoanalytiker*in? Über die emotional korrigierende Erfahrung

Wenn wir eine strenge Mutter hatten, dann brauchen wir eine weiche Psychotherapeutin, damit wir eine emotional korrigierende Erfahrung machen können. Nur so können wir gesund werden. Meinen wir. Doch so leicht geht es oft nicht. Wir sehnen uns so sehr danach, selbst eine „emotional korrigierende Erfahrung“ zu machen oder sie unseren Patienten zur Verfügung zu stellen, dass wir uns da vielleicht manchmal verausgaben. Auch wir selbst als Psychotherapeuten suchen immer wieder nach Chancen, bisher negativ Erlebtes endlich einmal in einer positiven Variante erleben z können.

„Bitte sei anders zu mir!“, wünschen wir uns von unseren Liebsten. Und wir spüren. dass sich die Patienten das auch von uns als Therapeuten wünschen.

Wir hören uns selbst vielleicht manchmal zu unserem Partner sagen: „Mein Vater reagierte schon immer genau so wie Du jetzt, also brauche ich es unbedingt, dass Du anders reagierst!“ Damit stressen wir sowohl uns als auch unseren Partner. Es ist schwierig, immer wieder denselben Schmerz zu spüren. In der Psychotherapie-Ausbildung bemühen wir uns, zu unseren Patienten warmherzig und freundlich zu sein, doch nicht selten bemerken wir dann: Wir überanstrengen uns. Der Patient bleibt ohne Resonanz. Unsere Warmherzigkeit führt (zunächst) nicht zu dem Ergebnis, das wir uns erhofft hatten.

Unter dem Deckmäntelchen der „emotional korrigierenden Erfahrung“ beginnt so mancher sexueller Missbrauch in der Psychotherapie. „Wenn die Patientin noch nie befriedigende Erfahrungen mit Sexualität gemacht hat, so will ich ihr geben, was ihr fehlt“, lautet die vereinfachte Gleichung. Das lässt sich fortführen: „Wenn die Patientin noch nie zärtlich berührt wurde und sonst niemanden hat, der sie berührt, dann möchte ich ihr die zärtliche Berührung zukommen lassen. So kann sie diese neue Erfahrung in einem geschützten Raum machen“, denken wir als Therapeut vielleicht.

Doch in der Therapie müssen wir bedenken: Patienten nehmen uns in der Übertragung oft anders wahr, als wir sind. Besonders in der Psychoanalyse kann es in der Regression so aussehen: Selbst wenn wir freundlich und wohlwollend sind, kann uns unser Patient unter Umständen als bösen Angreifer erleben, der nicht ansprechbar ist. Und das ist auch der Sinn der Sache, denn wir wollen ja eben dieses Erleben bearbeiten. Doch auch, wenn der Patient uns realistischer erlebt, also uns mehr als so „gut“ erlebt, wie wir vielleicht sind, macht ihn das nicht per se gesund. Denn die alte Wunde bleibt. Das kennen wir von uns selbst: Wenn wir etwas Besseres erleben, wird uns oft durch den Schmerz des Unterschiedes noch einmal so richtig klar, wie schrecklich das war, was wir selbst erlebt haben.

Mit einer allzu leidenschaftlichen Suche nach der emotional korrigierenden Erfahrung für uns selbst oder für andere laufen wir unter Umständen immer wieder in die Enttäuschung rein. Wir kennen das selbst: „Ich habe es nun schon 100-mal anders erfahren und meine immer noch, dass es so ist wie früher“, sagen wir.

Heisst das, ich darf nicht freundlich sein zum Patienten?

Natürlich dürfen wir warmherzig sein und dem Patienten emotional „geben was er braucht“ wie zum Beispiel Trost bei Trauer. Wir müssen eigentlich gar nicht so viel nachdenken, weil die Szenen, in denen der Patient Althergebrachtes auch mit uns erlebt, ganz automatisch entstehen. Und dann können wir wach sein und dem Patienten sagen: „Und jetzt haben Sie auch bei mir das Gefühl, dass ich Sie abweise, so wie Sie es auch in anderen Beziehungen immer wieder erlebt haben.“ Wir können dem Patienten auch erklären, dass die Psychoanalyse eine Art Bühne ist, eine Art Spiel, aber ein ernstes Spiel. Sie ermöglicht das Wiederaufleben des Negativen – mit dem Unterschied, dass sie es abfängt, aufnimmt, zur Sprache bringt.

Die korrigierende Erfahrung kommt unmerklich daher

Heilsame emotional korrigierende Erfahrungen kommen oft nicht offensichtlich daher, sondern sie sind eingebettet in die Gesamtsituation mit dem Psychotherapeuten. Die Psychoanalytiker sprechen zum Beispiel von der „Erfahrung mit der besseren Mutter“. Dazu gehört, dass der Analytiker als „bessere Mutter“ die Dinge vom Patienten aufnehmen, halten und psychisch verdauen kann. Hierbei heisst „Aufnehmen“, dass er wirklich zuhört und schaut, was es bei ihm in Schwingung bringt. „Halten“ bedeutet unter anderem, dass der Analytiker das schwer Erträgliche nicht abwehren muss, sondern dass er es aushalten und benennen kann, wie zum Beispiel das Gefühl von unerträglicher Langeweile mit dem Patienten. Zum „Verdauen“ gehört, dass er über das noch nicht Geformte nachdenken kann und vielleicht zu neuen Bildern findet, die das Gefühl von Erleichterung herbeiführen.

Allein die Tatsache, dass der Analytikerr verlässlich da ist, die Stunde pünktlich beginnt und beendet, dass er xum Beispiel durch seinen Urlaub Grenzen setzt, dass er die Grenzen des Patienten respektiert und eine gute Gesprächsatmosphäre schafft, ermöglicht eine „emotional korrigierende“ Erfahrung. Die Spuren der alten traumatisierenden Erfahrungen bleiben und neue verletzende Erfahrungen kommen hinzu – gerade auch in der Psychoanalyse. Doch wenn das Schlimme emotional nicht kleingeredet wird und wenn darüber nachgedacht und gesprochen werden kann, dann findet hier die emotional korrigierende Erfahrung statt, die Veränderung bewirkt.

„Emotional korrigierende Erfahrung“ klingt oft so nett. Doch in den Psychoanalysestunden kommt es immer wieder auch zu emotionalen Kämpfen. Weder ist der Patient immer ein unschuldiges, liebes, sympathisches Wesen, noch gelingt es dem Analytiker immer, die Dinge auszuhalten und persönliche Schwächen und Aggressionen nicht wirksam werden zu lassen. Fast jede analytische Stunde besteht meistens auch aus vielen kleinen Mini-Enttäuschungen – der Therapeut hat bei der Begrüssung schon wieder nicht sehr freundlich gelächelt, er hat in der Stunde drei Mal laut gegähnt oder er hat den Patienten „einfach“ nicht verstanden. Und der Patient, von dem man glaubte, er könne so viele Fortschritte machen und würde zumindest die Minimalanforderungen wie die Bezahlung erfüllen, kommt schon wieder mit einer Mikro-LSD-Dosis an und sagt, dass er sich noch nicht um die Nachfrage bei der Krankenkasse kümmern konnte. Viele Stunden sind weit von dem entfernt, was man als Patient oder Therapeut eigentlich tun, sein und sagen müsste.

Und dennoch ist es das „Gesamtwerk“, das wirkt: Die haltende Atmosphäre, in der ich als Lehranalysand oder Patient ernstgenommen werde, ist eine Art korrigierende emotionale Erfahrung, aber sie ist oft viel weiter gefasst, als wir sie uns vorstellen. Auch eine wütende Auseinandersetzung zwischen Patient und Therapeut kann zu einer emotional korrigierenden Erfahrung werden, wenn die Beziehung weiter geht und Bereuen und Wiedergutmachung – von beiden Seiten – erlebt werden können. Die emotional korrigierende Erfahrung lässt sich oft nicht so leicht festmachen, sondern sie geht in die Breite, akkumuliert sich in ihren Wiederholungen und hat oft mehr mit Verstehen zu tun als mit konkreten und willentlich herbeigeführten neuen Erlebnissen.

„Gut für sich sorgen?“

„Wie kann ich dem Patienten eine gute Mutter sein?“, fragen wir uns immer wieder. Doch eine gute Mutter sind wir nicht, sondern wir können es immer wieder nur versuchen und werden. Wir können auch nicht immer „gut für uns sorgen“, wie es in Seminaren für Psychotherapeten oft vermittelt werden soll. Nicht selten stecken wir vielleicht selbst im Selbsthass fest oder wir fragen uns, warum wir es in der eigenen Analyse nicht so gut hatten wie der eigene Patient bei uns selbst.

Doch das sind alles Überlegungen, die uns das Leben als Analytiker schwer machen können. Wir können davon weggehen und einfach nach der Erfahrung suchen, die wir mit dem Patienten machen. Eine „gute Stunde“ ist es, wenn Patient und Therapeut einander emotional begegnen. Und diese Erfahrung lässt sich immer wieder finden – durch die Suche nach dem eigenen resonanten psychischen Teilstück, das erklingt, wenn wir das innere Wie und Warum des Patienten erkunden. Wir werden immer wieder fündig – durch einen Blick, ein neues Bild, das uns gegenseitig beeindruckt, durch eine Geschichte, die ich dem Patienten erzähle oder die er mir erzählt. Immer wieder erneute, gemeinsame Beruhigung zu finden, das macht die emotional korrigierende Erfahrung aus, die sowohl mir als Therapeut als auch dem Patienten gut tut.

Und wo sind die Grenzen?

Therapeuten, die ihre Patientinnen sexuell missbraucht haben, begründen das manchmal damit, dass sie ihnen eine emotional korrigierende sexelle Erfahrung ermöglichen wollten. Ich denke, es ist auch eine innere Arbeit in der eigenen Ausbildung, zu wirklichen Überzeugungen zu kommen. Wenn ich mich in der Lehranalyse in den eigenen Lehranalytiker verliebe, kann ich darüber sprechen. Ich wûnsche mir vielleicht sehnlichst, mit dem Analytikerr zu schlafen. Und vielleicht begreife ich erst mit der Zeit, wie unglaublich wertvoll es ist, diese sexuellen Wünsche zu haben, ohne dass sie erfüllt werden. Der Schatz, den man dabei entwickelt ist das Gefühl, wirklich ein abgeschlossenes Individuum zu sein mit starken Wünschen, die jedoch ihre Grenzen haben. Die Wünsche bewirken nicht, dass der andere dahinschmilzt.

So wie auch meine Wut ihre Grenzen hat und ich nicht die ganze Welt zerstören kann, so kann auch meine unendliche Sehnsucht oder unendliche Angst ihre Grenzen haben. Ich merke, dass Wünsche wieder vergehen und dass ich hinterher froh sein kann, wenn so mancher Wunsch nicht in Erfüllung gegangen ist. Solche Ergebnisse können zu einer wirksamen inneren Überzeugung werden.

Und auch die absolute Ehrlichkeit zu sich selbst schützt vor allzu ausgedehnten „emotionalen Erfahrungsgaben“. Manchmal erzähle ich dem Patienten doch etwas von mir und merke gleich: Das war jetzt zu viel. Manchmal haben wir – wie bei schlechtem Essen – dann das Bedürfnis, unsere eigene schlechte Erfahrung nochmal zu wiederholen in der Hoffnung, dass sie diesmal besser wird. Und auch hier hilft wieder eine innere Überzeugung, die man über Jahre entwickeln kann: Wenn ich Geisterfahrer bin, dann bleibe ich am besten stehen. Wenn Versuch Eins nicht geklappt hat, dann kehre ich besser um.

Vom Falschen loszulassen, kann auf eine paradoxe Weise sehr schwierig sein. Doch ich kann mich verlassen, dass mein Gefühl von „Hier stimmt was nicht“ ein guter Kompass ist. Wenn wir unsere „komischen Gefühle“ ernst nehmen und nicht klein reden, dann können wir die Sitzungen mit dem Guten würzen wie die Suppe mit Salz: Wir spüren schon, wenn’s zu viel oder zu wenig ist.

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Links:

Franz Alexander, French TM (1946)
Psychoanalytic therapy; principles and application
Ronald Press
https://psycnet.apa.org/record/1946-02355-000
„The experiential dynamic therapies can be said to descend from the work by Alexander and French (1946), who were among the first to attempt to shorten psychoanalytic therapy and increase its efficacy.“
Corrective Emotional Experience (CEE), Encyclopedia of Psychotherapy, 2002
https://www.sciencedirect.com/topics/psychology/corrective-emotional-experience

VG-Wort Zählmarke im ersten Absatz (2825c0e894b1426eb32a58d6a0ceae9c)

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 5.2.2020
Aktualisiert am 22.3.2025

4 thoughts on “98 Wie werde ich Psychoanalytiker*in? Über die emotional korrigierende Erfahrung

  1. Dunja Voos sagt:

    Aktuell leider nein, aber wenn ich was sehe, werde ich berichten.

  2. lindareul sagt:

    Haben Sie einen Buchtipp zu dem Thema?

  3. Dunja Voos sagt:

    Vielen Dank für Ihre Rückmeldung, liebe Frau Mertens!

  4. Gabriele Mertens sagt:

    Herzlichen Dank für den Text, insbesondere die letzten beiden Absätze kann ich nur bekräftigen. Ich glaube es in der Analyse auch erlebt zu haben.

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