Weinen hat viele Formen: Wenn die Tränen aus Trauer fliessen, sind wir ganz bei uns
Wir können vor Wut heulen oder tief-traurig schluchzen. Wir können leise in uns hieinweinen oder vor Angst wimmern. Sind wir überwältigt von Freude oder Schmerz, können uns ebenfalls die Tränen kommen. Je nach Art des Weinens reagiert auch unser Gegenüber: verunsichert, selbst traurig und tröstend, mitfühlend, schweigend oder genervt. Patholgisches Weinen bei schweren psychischen oder hirnorganischen Störungen erkennen wir in der Regel rasch – es ist mitunter monoton, unpassend und irritierend. Weinen vor Trauer setzt voraus, dass wir uns selbst als eigenständiges Wesen begreifen und Trennung erleben können. Wir weinen, wenn wir etwas oder jemanden verlieren. Mütter stellen manchmal einen Zeitpunkt fest, an dem das Schreien des Babys in ein Weinen aus Trauer übergeht.
Das Weinen im Zusammenhang mit den Bindungsformen hat die Psychologin Judith Kay Nelson erforscht (1998). Sie ordnet das „traurige Weinen der Verzweiflung“ der sicheren Bindung zu. „Protestierendes Weinen“ finde man eher bei verstrickter Bindung und „Nicht-Weinen“ bei vermeidender Bindung. Die Wissenschaftler Fabienne Gutjahr und Cord Benecke haben die verschiedenen Formen des Weinens in der Psychotherapie untersucht (Research in Psychotherapy, 2024).
Unangenehm wird es, wenn wir weinen wollen, aber nicht können, zum Beispiel während einer starken Panikattacke oder wenn wir sehr starke Schmerzen verspüren. Manche Menschen, die Antidepressiva einnehmen, klagen darüber, nicht mehr weinen zu können – gleichzeitig stellen sie mitunter einen Verlust der sexuellen Lust und Funktionen fest.
Sexualität und Weinen hängen auf gewisse Weise zusammen – manchmal können wir akustisch kaum unterscheiden, ob jemand lacht, weint oder Geschlechtsverkehr hat.
Manche können in der Depression fast nicht mehr aufhören zu weinen, was als sehr anstrengend erlebt wird. Wieder „normal“ und angemessen weinen zu können, erleben wir oft als Erleichterung – vor allem vielleicht dann, wenn wir nicht mehr alleine sind und von unserem Gegenüber getröstet werden können. Beim Weinen vertieft sich zudem unsere Ausatmung, was meistens einen erholsamen, auch müde machenden Effekt auf unseren Körper hat.
Oft sagen wir: „Ich heule“ oder „Ich hab Pipi in den Augen“. Es ist oft schwierig zu sagen: „Ich weine.“ Das klingt intim. Das Wort „Weinen“ berührt uns vielleicht zu sehr. Schwäche und Scham sind nah und wir wissen nicht, wie unser Gegenüber reagiert. Ob wir weinen können, hängt auch davon ab, ob wir allein sind oder mit wem wir zusammen sind.
Weinen aus Reue kommt schon in der Bibel vor: Matthäus 26, 74-75: „Und alsbald krähte der Hahn. Da dachte Petrus an das Wort, das Jesus gesagt hatte: ‚Ehe der Hahn kräht, wirst Du mich dreimal verleugnen.‘ Und er ging hinaus und weinte bitterlich.“
Weinen als Manipulation?
Manche empfinden das Weinen des anderen rasch als Manipulation. Es ist oft schwierig zu bemerken, wann wir wirklich weinen und wann wir es zur Manipulation einsetzen – hier gilt es, sich selbst sehr ernst zu nehmen. Manchmal weinen wir auch in Konzentration auf uns selbst und sind überrascht davon, wie gut uns die Reaktion des anderen tut. Wir könnten unser Weinen dann im Nachhinein als „Manipulation“ interpretieren – wir können aber auch sagen, dass wir tiefe Wünsche an den anderen hatten und dankbar sein, dass er uns Trost spenden konnte.
Manchmal haben wir Kopfschmerzen, wenn wir viel geweint haben (siehe Studie aus dem Jahr 2003 von Yara Dadalti Fragoso et al.).
Wenn wir weinen und wir erhalten nicht das „richtige Containment“, zum Beispiel weil der andere kühl und reserviert ist, kann sich unser Weinen in ein manipulatives verändern. Wir haben dann das Gefühl, dass wir „mehr Gas geben“ müssen, um den anderen endlich zu erreichen. Der andere empfindet dies dann umso mehr als Manipulation. In der frühen Mutter-Kind-Kommunikation ist das manchmal gut zu beobachten (siehe auch Acebo und Thoman 1995).
„Wenn ich sehe, was aus Köln geworden ist, kann ich nur leise vor mich hinweinen“, sagt ein älterer Bekannter, der dort gross geworden ist.
Weinen in der Schauspielerei
Schauspieler lernen, professionell zu weinen. Das erfordert mitunter jahrelanges Üben. Wenn wir das Weinen absichtlich herbeiführen wollen, hilft es uns, die physiologischen Grundlagen zu kennen. Wir brauchen die entsprechende Mimik, die Körperhaltung, die Stimmvibration, aber vor allem auch das Gefühl des Druckes hinter den Augen und die vertiefte, rhythmische Ausatmung. Die Einatmung erfolgt schrittchenweise mit Pausen. Ein humorvolles Video über das „Weinen lernen für jeden Tag“ hat die Schauspielerin Julia Schubert 2016 auf Youtube eingestellt (ein Beitrag des Schauspiel Dortmund).
Wenn wir nicht weinen können, obwohl uns das gut täte, können Yoga-Atemübungen (Pranayama) manchmal helfen. Übungen wie Bahya Pranayama (Michael Bijker, Youtube) imitieren auf gewisse Weise das tiefe Ausatmen beim Schluchzen. Auch die Beschäftigung mit Musik kann helfen wie zum Beispiel der Workshop zur Bach-Kantate BWV 13 „Meine Seufzer, meine Tränen“ (Rudolf Lutz, J.S. Bach-Stiftung, Youtube). Johann Sebastian Bach hatte das Stück für den zweiten Sonntag nach Epiphanias komponiert (Epiphanias = 6. Januar). Wer aus Traurigkeit und Einsamkeit nicht gut Musik hören kann, der kann sich vielleicht über solche theoretisch-praktische Workshops wieder der Musik annähern. Interesssant ist hier das „Seufzermotiv“, das dem Weinen ähnelt. Wikipedia: „Ein Seufzermotiv besteht in der Regel aus einem Sekundschritt abwärts oder (seltener) aufwärts, bei welchem der erste Ton deutlich betont und der folgende angebunden, unbetont und leiser ist.“
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Links:
Fabienne Gutjahr und Cord Benecke (2024):
Crying in psychotherapy: an exploratory mixed-methods study on forms of emotional crying and associated therapeutic interventions
Research in Psychotherapy 2024 Apr 17;27(1):725, doi: 10.4081/ripppo.2024.725
https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC11116933/
Nelson, Judith Kay (1998):
The Meaning of Crying Based on Attachment Theory
Clinical Social Work Journal, March 1998, Volume 26, Issue 1, pp 9-22
DOI 10.1023/A:1022841427355
https://link.springer.com/article/10.1023/A:1022841427355
Thomas Murry and Clark Rosen (2000):
Phonotrauma associated with crying
Journal of Voice, Volume 14, Issue 4, December 2000, Pages 575-580
https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0892199700800132
„These case studies suggest that crying as a traumatic vocal behavior may result in vocal fold hemorrhage.“
Wenn wir an einer Depression leiden, weinen wir vielleicht manchmal mehr, aber wir haben weniger Emotionen dabei. Siehe:
Jonathan Rottenberg et al. (2002):
Crying threshold and intensity in major depressive disorder.
Journal of Abnormal Psychology, 111(2), 302–312
https://doi.org/10.1037/0021-843X.111.2.302
https://psycnet.apa.org/record/2002-12652-009
„Within the nondepressed group, participants who cried exhibited increases in the report and display of sadness and had greater cardiac and electrodermal activation than did participants who did not cry. There was less evidence of this crying-related emotional activation within the depressed group.“
Christine Acebo et Evelyn B. Thoman (1995):
Role of infant crying in the early mother-infant dialogue
Physiology & Behavior, Volume 57, Issue 3, March 1995, Pages 541-547
„The results indicate that responsive infants have responsive mothers—or conversely, that responsive mothers have responsive infants.“
https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/0031938494003456
Jan Winberg (2005):
Mother and newborn baby: Mutual regulation of physiology and behavior— A selective review
Developmental Psychology, November 2005, Volume47, Issue3, Pages 217-229
https://doi.org/10.1002/dev.20094
James J. Gross et al. (1994)
The psychophysiology of crying
Psychophysiology, Volume31, Issue5, September 1994: Pages 460-468
„Crying is thus associated with an aversive state, including negative emotion and a complex mixture of sympathetic, parasympathetic, and somatic activation, and we speculate about the functional implications of these findings.“
https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/j.1469-8986.1994.tb01049.x
Julia Katila et al. (2024):
Cries of Pleasure and Pain: Vocalizations Communicating How Touch Feels in Romantic Relationships
Research on Language and Social Interaction , Volume 56, 2023 – Issue 4, Pages 330-349
https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/08351813.2023.2272529#abstract
Aus dem Bach-Workshop zur Bachkantate BWV 13 (Youtube): Das Beresina-Lied:
„Unser Leben gleicht der Reise
eines Wandrers in der Nacht.
Jeder hat in seinem Gleise,
etwas, das ihm Kummer macht.“
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 28.12.2015
Aktualisiert am 6.1.2025
2 thoughts on “Weinen hat viele Formen: Wenn die Tränen aus Trauer fliessen, sind wir ganz bei uns”
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Liebe Simone,
wer lange nicht weinen konnte, bei dem kann das Weinen oft in der Gegenwart eines anderen kommen, der wirklich verstehen will und gut zuhören kann. Durch das Gefühl, nicht mehr allein zu sein, kann sich die Spannung oft lösen und das Weinen kommt wie von selbst. Allerdings kann die Scham dem Weinen im Wege stehen. Auch das Gefühl, dem anderen ausgeliefert zu sein, kann am Weinen in Beziehung hindern. Manche können dann tatsächlich am besten im Alleinsein weinen.
Das „Nicht-Weinen-Können“ und wie man es auflösen kann, wäre auch noch ein interessantes Thema für diesen Blog. Ich kann oft sehr lange nicht weinen und wenn es dann wiederkommt (ich muss mich dazu völlig sicher und räumlich allein wissen), dann hat es eine erlösende, besänftigende Kraft. Es gibt fast kein wirksameres Therapeutikum als echte Tränen zu weinen.