Im Glauben psychische Gesundheit finden? (Psychose-Serie 19)

Manche Menschen sagen, der Glaube habe sie gesund gemacht. Doch was meinen sie damit? Gerade junge Menschen mit schweren psychischen Störungen suchen oft in der Religion oder in Glaubensgemeinschaften ihr Heil. Doch die Beschäftigung mit Glaube und Religion führt bei manchen, besonders Frühtraumatisierten, dazu, dass sie sich psychisch noch schlechter fühlen. Der Grund: Sie haben oft kaum sichere Bindung erfahren. Sie verfügen kaum über ein gutes „inneres Objekt“, das sie in Ruhe lässt und ihnen wirklich gut tut.

Viele schwer Leidende konnten in ihrem Leben kein Bild von einer sicheren und dennoch freien Beziehung aufbauen. „Sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund“, heißt es in der katholischen Messe. Was ist aber mit den unzähligen Menschen, die diesen Satz als Heilungschance verstehen und dann enttäuscht feststellen, dass es ihnen trotz ihrer Glaubens-Bemühungen nicht besser geht?

Schwer psychisch kranke Menschen beschäftigen sich häufig intensiv mit religiösen Themen. In psychotischen Phasen halten viele Patienten sich für Gott oder sie fühlen sich von einem strafenden Gott verfolgt. Psychosen hängen anscheinend zudem mit der sexuellen Entwicklung zusammen – viele werden erstmals in der Pubertät, im jungen Erwachsenenalter, in der ersten sexuellen Liebesbeziehung psychisch schwer krank (Galdos et al., 2016). Die Fähigkeit zum Orgasmus, die Fähigkeit zu Weinen und zur Spiritualität scheinen miteinander zusammenzuhängen. Beispielsweise sind religiöse Frauen einer Studie zufolge orgasmusfähiger (Kontula und Miettinen, 2016). Auch das Weinen und die Sexualität hängen zusammen: Wer Antidepressiva nimmt, leidet in der Folge mitunter unter einem Rückgang der Libido und der Unfähigkeit, zu weinen.

Aus psychoanalytischer Sicht kann „Gott“ einem inneren Objekt entsprechen – „Gott“ steht oft unbewusst für den inneren Vater oder die innere Mutter, aber auch für das Größen-Selbst. Menschen mit Psychosen werden oft erst dann gesund, wenn sie von ihrem „inneren Bösen“ nicht mehr überwältigt werden. Dieses Gefühl, dass da etwas inneres Böses ist, stammt oft daher, dass sie als Kleinkind noch in der vorsprachlichen Zeit schreckliche Qualen, insbesondere Eingriffe in den kindlichen Körper und sexuellen Missbrauch, erlebt haben (Halluzinationen als Folge intrusiver Missbrauchserfahrungen als Kleinkind). Bei den Halluzinationen handelt es sich also vielleicht um eine Art „Erinnerung“.

Viele psychisch schwer kranke Menschen erlauben sich nicht, ihre Aggressionen zu spüren, weil es dann zu überheftigen Schuldgefühlen kommt. Gerade im Christentum steht das Thema „Schuld und Vergebung“ im Vordergrund. Viele suchen Vergebung, doch fühlen sich dann emotional enttäuscht, weil sie keine Verringerung der Last spüren. Doch um Aggression und Schuld nicht stets als überwältigend zu empfinden, braucht es zunächst mehr „Ich-Stärke„. Diese Ich-Stärke entwickelt sich jedoch häufig erst in einer guten realen Beziehung, zum Beispiel zu einem Psychoanalytiker. Wer ein schwaches Ich hat, braucht ein gutes inneres Objekt, also eine gute nahe Beziehung, die möglich macht, sich frei und dennoch gut gebunden zu fühlen.

Erst die Erfahrung, dass wir ein relativ starkes Ich und einen „guten Anderen“ haben, macht es uns möglich, uns in guter Weise zu „unterwerfen“, uns unserem Schicksal, einem anderem Menschen oder einem „Gott“ hinzugeben. Während einer guten Psychoanalyse finden viele hin zu einer gesunden und befriedigenden Spiritualität. Zwar finden auch viele Frühtraumatisierte von Kindes Beinen an Halt in ihrem Glauben, doch die Zahl derer, die sich durch den Versuch, zu „glauben“, noch schlechter fühlen, ist wahrscheinlich groß.

Frühtraumatisierungen erschweren den Weg zu einer sicheren Beziehung

Bei Menschen mit Psychosen ist die sehr frühe Bindung zu Mutter und Vater häufig schwer gestört. Manche haben schon früh Körpergrenzen überschreitende Gewalt erfahren, z.B. auch durch frühe Krankenhausaufenthalte oder medizinische Behandlungen. In der Folge ist es paradoxerweise oft schwieriger, sich von der Mutter innerlich zu trennen. Auch hier können unbewusste Schuldgefühle und in der Folge „Überbemutterung“ eine Rolle spielen. Diese ungute Verbundenheit kann zu Gefühlen des Verfolgtwerdens führen, aber auch zu einer unbändigen Wut und zu einem Hass auf den „Verfolger“ und auf die Welt, wenn es nicht gelingt, ein eigenes freies Leben zu führen.

Doch häufig darf die Wut nicht gezeigt werden, so meinen die Betroffenen – zu empfindlich könnte die (innere) Mutter darauf reagieren. Also neigen Menschen mit Psychosen häufig dazu, das Böse draußen zu sehen: Der andere Mensch guckt böse, es gibt böse Stimmen in einem oder der Teufel verleitet einen zum bösen Handeln. Durch diese Verlagerung des „Bösen“ nach außen steigt aber auf Dauer die innere Angst, das Böse könnte „zurückkommen“. Das äußere Böse ist andererseits auch eine Art „Erinnerung“, denn tatsächlich kam die mögliche Gewaltanwendung früher einmal von außen.

Viele Menschen mit Psychosen haben furchtbare Lebens- und Gefühlserfahrungen in den ersten Lebensjahren gemacht. Entsprechend angsterfüllt und verworren fällt der Glaube aus.

Spiritualität ist für viele ein Halt – oft aber ist es auch etwas Schwebendes, Unklares, nicht Fassbares. Es kann so etwas wie ein grenzenloses, „ozeanisches“ Gefühl entstehen. Vielen Menschen mit psychischen Störungen macht Spiritualität Angst, weil es ihnen selbst oft an dem Gefühl eines festen Kerns oder eines stabilen Selbst bzw. Ichs fehlt. Für sehr viele ist es da geradezu kontraproduktiv, sich mit einem Glauben oder einer Religion auseinanderzusetzen, denn dazu braucht es erst einmal einen inneren Halt. Für psychisch Gesunde ist es oft sehr viel leichter als für Frühtraumatisierte, sich religiösen Fragen zuzuwenden, ohne von allzu großer Angst ergriffen zu werden.

Mithilfe von Psychotherapie den Boden unter den Füßen finden

Besonders in einer Analytischen Psychotherapie können viele Menschen erstmals besser begreifen, wie sie sich als Kind/als Baby fühlten, was Realität und Phantasie, was Innen und was Außen ist. Viele entwickeln erst langsam das Gespür für eine persönliche Grenze. Für manche ist der Psychoanalytiker der erste Mensch, der sie versteht und der ihnen dabei Sicherheit bietet. Viele erleben erstmals, dass die eigenen Gedanken sicher sind und der Analytiker sie nicht einfach so lesen kann. Sie erleben, dass ein anderer konstant da ist, dabei gleichzeitig Respekt hat, nicht zu nahe kommt und nicht eindringt.

So wird es möglich, sich eine Vorstellung von einem „guten Anderen“, vielleicht auch von einem guten Gott, zu machen. In der Psychoanalyse kann die „Repräsentanz“ (gefühlte Vorstellung) von einer guten Beziehung in sich entstehen. Diese Vorstellungen tun dann meistens gut. Erst durch das Gefühl eines „schützenden Mantels“, einer guten Grenze und einer inneren Stärke können wir auf gesunde Weise offener für die großen Fragen des Lebens werden. Empfehlenswert ist hier das Buch „Psychoanalysis and Religion“ (amazon) des australischen Theologen und Psychoanalytikers Neville Symington (1937-2019).

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Links:

Paula Thomson and S. Victoria Jaque (2014):
Unresolved mourning, supernatural beliefs and dissociation:
a mediation analysis.

Attachment & Human Development (2014),
Volume 16, Issue 5, pages 499-514
DOI:10.1080/14616734.2014.926945
https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/14616734.2014.926945

Neville Symington:
Psychoanalysis and Religion: Questioning the Claims of Psychoanalysis and Religion.
Continuum International Publishing, Juli 1996
amazon

Osmo Kontula and Anneli Miettinen
Determinants of female sexual orgasms
Socioaffective Neuroscience & Psychology, Volume 6, 2016 – Issue 1
https://doi.org/10.3402/snp.v6.31624
https://www.tandfonline.com/doi/full/10.3402/snp.v6.31624#d1e1483
„On the other hand, religious women were more likely to experience orgasms in the intercourse than were those women who regarded religion not at all important. The association was much weaker when church attendance was considered.“

Paloma Galdós et al. (1993)
Puberty and the onset of psychosis
Schizophrenia Research, Volume 10, Issue 1, June 1993, Pages 7-14
https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/092099649390071P

Kirkpatrick, Lee A. and Schaver, Phillip R. (1990):
Attachment Theory and Religion:
Childhood Attachments, Religious Beliefs, and Conversion

Journal for the Scientific Study of Religion
Vol. 29, No. 3 (Sep., 1990), pp. 315-334
http://www.jstor.org/stable/1386461?seq=1#page_scan_tab_contents

Dunja Voos:
Ungeliebte glauben eher an Gott.
DocCheck, 28.11.2014

Owen Davies (2023):
Troubled by Faith: Insanity and the Supernatural in the Age of the Asylum
https://global.oup.com/academic/product/troubled-by-faith-9780198873006?cc=fr&lang=en&

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 7.2.2015
Aktualisiert am 12.4.2025

VG-Wort Zählpixel im ersten Abschnitt (0545e1df7a6944d88e4e4411f41a0d62)

One thought on “Im Glauben psychische Gesundheit finden? (Psychose-Serie 19)

  1. ibag sagt:

    Dieser Text bringt mich sehr zum Nachdenken und ebenso die dahinterstehende Frage fehlender bzw. mißglückter frühkindlicher Bindungen und Aufbau einer guten Gottesbeziehung. Als ehemalige Katechetin für Vorschulkinder war ich immer bestrebt, Kinder zu einer guten Gottesbeziehung heranzuführen, d. h. vor allem auch den liebenden Gott kennen zu lernen. Aber ist dies eigentlich möglich, wenn das sogenannte Urvertrauen fehlt bzw. die Beziehungen zu den grundlegendsten Bezugspersonen nicht vorhanden ist?

Schreibe einen Kommentar