Grübelzwang und Depression: Leiden lernen, um besser zu leben

Gequälte Zustände sind ein Graus – wir grübeln zwanghaft und meinen vielleicht, wir hielten dieses Gequältsein ohne Medikamente und Alkohol nicht aus. Alles Leben sei Leiden, hören wir in Beiträgen über den Buddhismus. Und denken vielleicht: Die haben keine Ahnung von komplexer posttraumatischer Belastungsstörung und von entsetzlicher Qual schon in frühester Kindheit. Es seien alles nur Gedanken, hören wir. Und vielleicht versuchen wir ständig, dem Leiden aus dem Weg zu gehen. Doch „richtig leiden“ will gelernt sein, um ein tieferes, weniger gequältes Leben führen zu können. Wir können es vielleicht vergleichen mit dem Körpergefühl, das wir haben, wenn wir durch Moor oder Watt wandern: Manchmal lässt das Grübeln davon nach.

„Richtig leiden“ heisst, zu spüren: Da ist wieder dieses gequälte Gefühl, das ich vielleicht gar nicht näher benennen kann. Ich habe eine namenlose Angst. Ich wurde von einem nahestehenden Menschen schon wieder verlassen. Ich bin erneut furchtbar einsam und ausgestossen. Ich habe Schuld. Was wir dann brauchen, ist eine gute Stimme in uns selbst oder auch ausserhalb von uns selbst. Wir brauchen das Gefühl, dass wir in guter Weise mit uns selbst Mitgefühl haben können. Ich finde da oft Eckhart Tolle hilfreich, der vom „Pain Body“ spricht: Wir können bewusst merken, wenn unser Pain Body wieder aktiv ist – der Körper, dem so viel angetan wurde. Aber wir haben auch ein inneres Wesen, einen inneren Beobachter, der davon mitunter unabhängig sein kann.

Ich denke, gequältes Leid entsteht besonders dann, wenn wir zu selten die Erfahrung machen können, dass da jemand im Aussen ist, der uns verstehen will und der uns tröstet. Tiefes Leid zu empfinden und nicht wegzulaufen, ist eine Kunst. Damit ist nicht gemeint, andere oder uns selbst zu quälen und sich dabei emotional abzuschalten. Damit ist gemeint, mit dem Leiden mitzugehen. Sigmund Freud sagte, dass die Psychoanalyse aus krankhaftem Leid normales Leid machen möchte. Trauer ist etwas anderes als Depression, Leiden ist etwas anderes als Sich-Quälen.

Einmal hörte ich, wie in einem Kindergarten bunte Tücher verteilt wurden. Eine Kindergärtnerin sortierte jedoch die schwarzen Tücher aus – sie wisse sonst jetzt schon, welche Kinder die schwarzen Tücher nähmen, „und da wollen wir schliesslich nicht hin“, sagte sie.

Genau das ist der Punkt. Wenn wir die schwarzen Tücher und die Melancholie wieder in unser Leben lassen, können wir viel mehr Tiefe erfahren. Das reifeste Gefühl, das wir Menschen haben können, ist die Trauer. Wenn wir wirkliche Trauer zulassen können, können wir viele Kämpfe verhindern. Wir trauern um unsere nicht gelebten Möglichkeiten, wir trauern darum, dass uns der Partner verlassen hat, dass uns Kinder verwehrt blieben, dass wir älter werden. Vielleicht haben wir sogar das Gefühl, gar nicht leben zu wollen.

Wenn wir all diese schwarzen Tücher in unser Leben zurückholen, geht es uns und anderen auf eine gewisse Art besser. Diese Theorie, dass wir durch die häufige Beschäftigung mit dem Negativen nur unsere „negativen Nervenstrassen im Gehirn“ breiter werden lassen könnten, ist viel zu simpel und aus Erfahrung würde ich sagen, dass sie so auch nicht richtig ist. Menschen, die sich im Zen oder in einer Psychoanalyse jahrelang mit diesem Negativen beschäftigen, spüren mitunter, wie es sich manchmal auflösen kann, wie es aufgenommen werden kann und zu mehr Tiefe führt. Zuerst müssen wir also inneren und äusseren Beistand finden, und dann können wir beginnen damit, dem Negativen nicht länger auszuweichen. Das gibt uns Festigkeit, denn es ist unsere innere Wahrheit.

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Schreibe einen Kommentar