„Ich kann mich nicht aufs Leben einlassen, weil ich keinen Sinn im Leben sehe.“ Über die tiefe Depression

Sicher, ich spreche mit dem anderen. Ich gehe arbeiten. Und doch spreche ich im Hinterkopf mit mir selbst ganz anders. Wenn der wüsste, was ich wirklich denke und fühle. Wenn der wüsste, was in mir vorgeht. Ich hab so viel gegoogelt und nichts gefunden. Mir fehlt einfach das Gefühl, selbstverständlich in mir selbst und im Leben verankert zu sein, ja mir fehlt die Selbstverständlichkeit. Und wenn ich tot bin? Falle ich dann in ein tiefes Loch und werde weiter diesen unerträglichen Zustand haben? Gibt es überhaupt Trost, Erleichterung, Befreiung? In diesem Beitrag geht es um die tiefe, existenzielle Depression.

„Was ist eigentlich Sinn?“, frage ich mich. Sinn ist Beziehung. Die Sonne macht nur Sinn, wenn es ein Blümchen gibt, das davon leben kann. Doch eigentlich bräuchte es weder eine Sonne noch Blümchen. Es bräuchte auch mich nicht zu geben – doch wie kommt überhaupt meine Subjektivität zustande, wie kommt das Ich ins Ich? Rudolph Steiner habe gesagt, alle 1500 Jahre kehre das Ich zurück, höre ich. Alfred Hitchcock war nichts dagegen, denke ich.

Wenn andere davon erzählen, dass sie an „Gedankenkreisen“ leiden, dann meinen sie oft sowas wie Schuldkonflikte. Sie denken über ihr schlechtes Gewissen nach. Doch mein Gedankenkreisen ist essenziell – ich stelle, wie so viele Philosophen, – die ganze Welt, die ganze Existenz infrage. Ich hoffe, dass mir niemand anmerkt, wie es mir geht. Der andere wird zur Last, weil er nicht erkennen soll, wie tief das Loch in mir ist. Alleinsein wirkt manchmal wie eine Entlastung und doch wird dann wieder das Alleinsein mit mir zum Problem. Mit dem anderen geht’s nicht und ohne den anderen geht’s auch nicht. Was geht dann überhaupt?

„Was meinen Sie mit: Das Leben macht keinen Sinn? Nur Ihr Leben nicht oder das aller Menschen?“, fragte mich einst eine Analytikerin. Irgendwie half mir die Frage. Mein Leben machte für mich keinen Sinn – die anderen dürfen ruhig ihre Freude daran haben. Diese Erkenntnis entlastete mich. Wenigstens hilft mir manchmal der Gedanke: Ich wurde geboren, ich lebe gerne und dann werde ich sterben und aus ist es. Dieser Gedanke der Begrenzung hat etwas Befreiendes. Oder Sterbefasten – spätestens in wenigen Wochen wäre alles aus. Wenn nicht diese Angst vor dem Tod wäre.

„Wer gefoltert wurde, wird in diesem Leben nicht mehr heimisch“, sagte einst der Schriftsteller Jean Améry.

Und auch, wenn sich solche Gedanken und Gefühle wie etwas sehr Überdimensionales anfühlen, so kann es doch erstaunlich sein, wie rasch ich wieder in einen besseren Zustand kommen kann. Manchmal reicht ein Stück Schokolade, etwas Wärme, ein guter Text, die Arbeit, ein gutes Gespräch mit anderen Menschen – mit Menschen, denen es auch so geht. Und heute geht es vielen so – immer wieder mal, vielleicht auch ein ganzes Leben lang. Unterschwellige Angst begleitet uns vielleicht immer. Verunsicherung kommt von überall her. Kaum habe ich mich vielleicht in einem Glauben oder in einer Lebensphilosophie eingemuckelt, kommen Nachrichten von Ufos, Aliens, Orbs, Wormwholes und Parallel-Universen. Doch hat es sie schon immer gegeben – ich erfahre nur jetzt davon.

Bücher wie diese erscheinen: Antinatalismus*: Warum es immer schlecht ist, empfindungsfähige Wesen zu erschaffen. Von Günther R. Eberhard (2017, Books on Demand, Norderstedt). Er zitiert Goethes Faust:
„Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit REcht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, dass es zugrunde geht;
Drum besser wär’s, dass nichts entstünde.
So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz das Böse, nennt,
Mein eigentliches Element.“
*Dank an Zen-Meister Muho Noelke, Youtube, fürs Aufmerksammachen

Eberhard zitiert auch Nietzsche, der gesagt hat: „Was eigentlich gegen das Leiden empört, ist nicht das Leiden an sich, sondern das Sinnlose des Leidens.“ Und hier denke ich ganz anders. Ich empfinde Leiden als etwas zutiefst Sinnvolles. Um Leiden zu können, bedarf es eines Ichs, einer Beziehung zu sich, zum eigenen Körper und zu anderen. Leiden ist etwas Handfestes. Das Leiden am Schmerz kann kommuniziert werden. Wie Sigmund Freud schon sagte: Ziel der Psychoanalyse sei es, aus dem neurotischen Leiden normales Leiden werden zu lassen. Da, wo Es war, soll Ich werden.

Was das Unerträgliche ist, ist das Leiden „ohne Grip“, die namenlose Angst „ohne Grip“. Schwer erträglich ist, dass wir eigentlich gar nicht sagen können, wie es uns geht. Das „Ohne-Grip“ ist das Unsagbare in uns. Ähnlich wie Schmerzen im Körper oft etwas Konkretes sind und sich per Röntgenbild oder Schmerzmittel packen lassen, so ist psychisches Leid etwas Handfestes: Wenn ich um einen Menschen trauere, ist Trost auf gewisse Weise möglich. Ich kann weinen, ich bekomme vielleicht Zuwendung. Körperlich schlimmer als Schmerz sind jedoch oft vegetative Symptome wie Benommenheit, Schwindel, Kribbel- und Taubheitsgefühle, Lähmungen, Atemprobleme, unbestimmbare Angst, Alpträume, Schlaflosigkeit.

Psychisch ist das Gefühl, verrückt zu werden, nicht unbedingt das, was man „Leiden“ nennt. Es ist etwas gruselig-Unbeschreibliches. Wenn das Schwebende in uns nicht verankert werden kann, dann entsteht oft das Gefühl, verrückt zu werden und an Leben und Tod zu verzweifeln. Und manchmal hilft gegen das Verzweifeln das Zweifeln. Der Schauspieler Jan-Josef Liefers hat mal gesagt: „Verzweifeln Sie ruhig, aber zweifeln Sie nicht“ (Youtube). Hier muss man einmal um die Ecke denken, um zu bemerken, wie gut das Zweifeln tun kann: Zweifele ich am Leben oder nur an meiner Lebenssituation?

„Essen hält Leib und Seele zusammen“, heisst es. Ich denke, auch Sorgen und Leiden halten Leib und Seele zusammen. Aber ebenso die eigene Kreativität. Wenn wir richtig „zu uns zurückfinden“, atmen wir auf. Und auch, wenn wir noch so sehr nicht leben wollen, ist es doch oft so, dass wir uns vor einer schlimmen Krankheit fürchten und dann merken, wie gerne wir leben. „Ich bin Leben, das Leben will inmitten von Leben, das leben will“, hat Albert Schweitzer gesagt. Und schliesslich hält uns auch die Neugier am Leben – wir wollen doch wissen, wie das alles so ausgeht mit der nächsten Wahl und mit den Menschen.

Menschen mit Psychosen geht es mitunter gut, wenn sie eine fette Grippe haben. Dann haben sie oft Ruhe vor Wahnvorstellungen. Körperliches Leid verankert uns wieder in uns, daher ritzen sich manche auch. Das fühlt sich mitunter besser an als das schwebende Unbeschreibliche in uns. Doch über das Schwebende wollen wir sprechen. Was ihm entgegensteht oder auch entgegenwirkt, ist unsere Zerstörungswut. Mal so richtig etwas zerstören – diese Vorstellung kann uns auf gewisse Art vielleicht Halt geben. Oder sich an die tosende Nordsee zu begeben kann helfen. Dann fühlen wir uns vielleicht wieder verbunden und wir fühlen endlich wieder Boden. Die Ausatmung erreicht das Zwerchfell.

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Links:

Günther R. Eberhard:
Antinatalismus
Warum es immer schlecht ist, empfindungsfähige Wesen zu erschaffen
Book on Demand, 2017
amazon

Wiegald Boning
949. Badetag in Folge
„Fundamentale Bocklosigkeit“, X.com

Schreibe einen Kommentar