113 Wie werde ich Psychoanalytiker*in? Das psychoanalytische Erstinterview

Wenn sich ein Patient zum ersten psychoanalytischen Gespräch anmeldet, passiert schon viel. Hat er uns eine Mail geschrieben? Hat die Sekretärin einen Termin für uns festgelegt und was erzählt sie darüber? Konnten wir mit dem Patienten am Telefon sprechen oder hat er uns mit seinem Anruf irgendwo gestört? Die Vorboten des Erstgesprächs sind meistens genau so wichtig wie das Erstgespräch selbst – welche Phantasien sind uns zu diesem angekündigten Patienten gekommen?

Ein psychoanalytisches Erstgespräch können wir aufnehmen wie einen Traum oder wie ein Spiel. Wir bekommen nur einmal einen ersten Eindruck. Und diesen gilt es, ernst zu nehmen. Wenn wir eine Psychoanalyse mit diesem Patienten machen werden, dann werden die ersten Szenen mit ihm eine bleibende Rolle spielen. Ähnlich wichtig wie der Initialtraum (= der erste Traum, den ein Patient in der Psychoanalyse erzählt) ist das, was wir mit dem Patienten in der ersten Stunde erleben.

Heute führen wir leider häufig eine „Sprechstunde“ mit neuen Patienten durch und brauchen Eckdaten fürs Formular. Aber wenn wir uns uns bewusst die Freiheit nehmen, ein klassisches – und immer zeitgemäßes – psychoanalytisches Erstinterview zu führen, dann können wir dafür im Laufe der Analyse meistens sehr dankbar sein.

Was ist wichtig?

Achte auf Deine Gedanken, Gefühle und Körperreaktionen. Beobachte, welche Art von Raum zwischen Dir und dem Patienten entsteht: Kannst Du ihm seinen Raum lassen oder bist Du geneigt, den Patienten mit Fragen zu bedrängen? Lass Dich ruhig verwickeln oder auch bannen, während Du versuchst, die Szene zu beobachten: Vor welchem Hintergrund tritt der Patient zu uns? Wie ist das Wetter, wie ist der Patient gekleidet, woran erinnert er uns, welche Atmosphäre herrscht vor? Gibt es etwas Düsteres oder Leeres? Habe ich das Bedürfnis, den Patienten zuzutexten oder würde ich lieber laufen gehen? Was geht zwischen uns beiden vor?

Die Beobachtung der Szene aus den Augenwinkeln kann uns viele Hinweise über den Patienten liefern.

Der Psychoanalytiker Wolfgang Leuschner schreibt ins seinem Buch „Telepathie und das Vorbewusste„, dass man besonders Wichtiges über den Patienten häufig sozusagen nebenbei erfährt, wenn man nicht richtig hinsieht. Wenn wir dem Erstgespräch genügend Raum für Phantasie und freie Entfaltung lassen und nicht zu viel konkret nachfragen, können wir schon viel Material für spätere Deutungen erhalten. Was uns an Daten fehlt, können wir in einem zweiten Gespräch erfragen.

Vielleicht träumen wir ja in der darauffolgenden Nacht etwas über den Patienten. Einmal las ich, dass ein Schamane gefragt wurde, welche Patienten er behandelt. Er antwortete: „Wenn ich in der folgenden Nacht vom Patienten träume, dann behandele ich ihn. Wenn ich das nicht tue, schicke ich ihn wieder weg.“ So konkret brauchen wir es nicht zu halten. Aber ich finde, es ist ein schönes Gleichnis für unsere psychoanalytische Arbeit.

Ähnlich wie die Kindheit uns die Skizze für unser weiteres Leben liefert, so ist das psychoanalytische Erstgespräch eine wichtige Vorlage für die kommende Psychoanalyse. Es ist gut, wenn wir das Erstgespräch wirklich ernst nehmen können. Heute weiß man, dass schon die Phantasien werdender Eltern einen enormen Einfluss auf das Leben des Kindes haben können. Ebenso bietet uns das Erstgespräch die Grundlage für alle weiteren Stunden. Und selbst, wenn wir das Erstgespräch nicht so gekonnt und elegant hinbekommen wie erfahrene Psychoanalytiker, so wird uns das Wichtigste schon hängenbleiben.

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Literatur:

Annemarie Laimböck (2000):
Das psychoanalytische Erstgespräch
edition discord, zvab.com
Brandes & Apsel, 2011, amazon

Hermann Argelander (1970):
Das Erstinterview in der Psychotherapie
amazon

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 26.1.2023
Aktualisisert am 2.11.2024

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