Körpersymptome als Aggression gegen den Partner oder Traumafolge?
Das Paar will ins Konzert und die Frau bekommt Migräne. „Vielleicht haben Sie die Migräne ja bekommen, weil Sie wütend waren auf Ihren Mann. So konnten Sie ihm das Leben vermiesen, ohne selbst schuld zu sein.“ Eine Zeitlang war es modern in der Psychoanalyse, das Augenmerk auf mögliche Aggressionen zu legen. Das kann manchmal stimmen und auch hilfreich sein, wenn man denn so wieder die Kontrolle über die Kopfschmerzen gewinnen könnte. Heute prüfen viele Psychoanalytiker jedoch auch, ob nicht ein Trauma hinter der plötzlichen Migräne stecken könnte. Der Konzertsaal kann mit Einengung und Zwang verbunden werden. Schließlich gibt es auch noch die Möglichkeit, dass der Körper aufgrund von Müdigkeit, Unverträglichkeiten und Mangelerscheinungen oder „einfach so“ und weitgehend autonom eine Migräne entwickelt.
Es kann diesen Konflikt geben: „Ich weiß nicht, wohin mit meiner Aggression. Aggressionen direkt zu zeigen, das verbiete ich mir.“ Es ist sozusagen ein neurotisches Problem. Wenn ich dann ehrlich zu mir selbst bin, bemerke ich, dass meine seelische Drangsal gerade dann entstanden ist, als ich eine „Mordswut“ auf meinen Partner hatte. Wenn ich lerne, mit meinem Partner über meine Wut zu sprechen, muss ich die Wut nicht mithilfe körperlicher Symptome ausagieren. Dann geht es mir – und auch meiner Partnerschaft – auf Dauer besser. Doch es gibt auch Erklärungen jenseits der Konflikt-Ebene.
Woher kommen die plötzlichen Symptome in auffälligen Situationen?
Es kann sein, dass man auch bei ehrlichster Introspektion solche Zusammenhänge nicht so richtig in sich finden kann. Bevor das Thema „Aggression“ zu einem wichtigen Schwerpunkt in der Psychoanalyse wurde, war es die Sexualität. Psychoanalytiker deuteten viele körperliche und seelische Symptome als Ausdruck sexueller Konflikte. Unbemerkte oder abgewehrte sexuelle Erregung kann zu Übelkeit und Angst führen. So eine Hypothese kann, muss aber nicht stimmen. Heute erkennen Psychoanalytiker immer mehr, dass Symptome auch Ausdruck früher Traumata sein können.
Die enge Beziehung zum Partner reaktiviert auch Gefühle, die man in der frühen Beziehung zu den primären Bezugspersonen – also zu Mutter und Vater – hatte.
Es kann sein, dass körperliche und psychische Symptome entstehen, weil die Berührung in der Partnerschaft etwas in einem triggert. Der Konzertsaal würde auch ohne Partnerschaft beim traumatisierten Menschen zu unerträglichen Engegefühlen führen. Wenn ich mit meinem Partner etwas vorhabe, dann wird die Beziehung sozusagen enger: Wir haben gemeinsam etwas vor und sind gemeinsam aufgeregt. Die Aufregung in der engen Beziehung kann jedoch „triggern“. Schädliche Nähe führte in einer schweren Kindheit vielleicht zu Angst und Fluchtreflexen. Die Migräne ist gleichzeitig echt und ein Ausweg aus der auswegslosen engen Beziehung.
Oft kann man sich die Entstehung vegetativer Symptome auch gar nicht erklären.
Manchmal können verschiedene Körperhaltungen im Schlaf zu Panikattacken führen, weil die Körperhaltungen unbewusst an Haltungen erinnern, die man eingenommen hatte, als einem traumatische Erlebnisse widerfuhren. Es kann aber auch sein, dass eine bestimmte Körperhaltung zu Verkrampfungen oder Minderdurchblutung führt. Manchmal kommen vegetative Symptome vielleicht auch einfach so. Wir möchten immer gerne Zusammenhänge herstellen. Heute wird durch den verstärkten Blick auf das Trauma vielleicht öfter einmal die sexuelle Dimension ausgespart, obwohl sie Teil des Ganzen ist. Vielleicht übersehen wir dabei aber auch die aggressive Dimension. Nicht zuletzt können auch Nahrungsmittel oder Schlafmangel zu vegetativen Symptomen führen.
Oft müssen wir damit leben, dass wir uns selbst ganz und gar nicht verstehen. Es lassen sich oft keine (psycho-)logischen Zusammenhänge zwischen den Beschwerden und der Beziehung oder den Umständen finden. Doch wir können immer auf unser zugrundeliegendes Gefühl achten: Wenn wir der Wahrheit – egal auf welcher Ebene – auf die Spur kommen, dann stellt sich ein vielleicht schmerzhaftes, aber oft auch ein erleichterndes Gefühl von Stimmigkeit ein.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 1.11.2021
Aktualisiert am 5.4.2024