Wenn wir die anderen immer lenken wollen, fühlen wir uns bald ungesehen

„Wo ich hinkomme, reagieren die Menschen mit Ärger auf mich. Ich weiß nicht, wieso. Es sind sehr unbefriedigende Begegnungen.“ Eine Patientin erzählt, dass fast alle ihre Kontakte von unbegreiflicher Aggression betroffen sind. Erst im Laufe der Zeit entdeckt sie, dass sie die anderen ständig steuern will. Sie macht Witze, damit die anderen lachen und sie denkt sich vorher genau aus, was sie sagt, damit die anderen in dieser oder jener Weise reagieren. Auf einmal versteht sie, warum so viel Langeweile in ihrem Leben herrscht: Sie vermeidet die lebendige Begegnung.

„Ich möchte diese ewige Lenkerei aufgeben. Natürlich werden die anderen sauer, wenn sie sich so subtil gelenkt fühlen – und ich selbst verspüre Ärger, weil für mich kein echter Kontakt möglich wird.“ Doch wie kann das gehen: dem anderen begegnen, ohne ihn zu lenken?

„Ich befürchte, dass der andere mich angreift, wenn ich ihn nicht ständig im Blick habe“, sagt die Patientin. Das ist verständlich, denn sie wurde als Kind immer wieder unverhofft angegriffen. Aber heute ist es unfair den anderen gegenüber, ihnen immer Angriffslust zu unterstellen. Vielleicht kennen wir solche Mechanismen von uns selbst: Wir gehen oft erstmal davon aus, dass andere es nicht ernst mit uns meinen, dass sie uns unvermittelt angreifen oder beschämen wollen. Im Gegensatz zu den anderen ist man selbst dann die oder der Gute.

Die Angst scheint unerbittlich zu sein.

„Ja, aber wenn ich nicht lenke, dann kommt die Angst.“ Vielleicht fühlen wir so. Die Angst vor dem Angriff des anderen lässt sich nicht einfach wegmachen. Und genau genommen sind es gar nicht nur die äußeren Menschen, die uns in unserer Vorstellung angreifen, sondern es sind auch die sogenannten „inneren Objekte“. „Innere Objekte“ sind die Menschen, die wir als Vorstellung in uns tragen. Wir denken an unsere Mutter/unseren Vater und spüren, dass sie irgendwie „in uns“ sind. Wir stellen uns unsere heutigen Beziehungen oft so ähnlich vor wie wir unsere ersten Beziehungen in unserem Leben erlebt haben.

Also heißt es: Frieden schließen mit den inneren Objekten? Auch das ist nicht so leicht. Schließlich sind die Erfahrungen, die wir mit ihnen gemacht haben, nicht einfach auszulöschen. Tagtäglich spüren wir vielleicht noch „komische Gefühle“, Wut und Rachegedanken, die wir von früher ins Jetzt mitgebracht haben. Doch was wir machen können, ist immer wieder neu zu beginnen. Manchmal müssen wir uns erst einmal lange festgekrallt haben, bevor wir loslassen können.

Es ist wie ein Gleichgewichtstraining auf dem Seil: Wir können beginnen, zu üben und schaffen anfangs vielleicht nicht mal einen Schritt. Aber wir können unser Gleichgewicht trainieren und können dann vielleicht irgendwann einen ersten Schritt ganz alleine gehen, bevor wir uns wieder beim anderen „einhaken“ müssen.

Wenn der andere merkt, dass er frei bleiben darf, geht er selbst auch anders mit uns um.

Unsere Beziehungen können mit der Zeit freier werden, wenn wir bemerken, wann wir den anderen lenken wollen und wir dann bewusst davon absehen. Die Beziehungen sind dann weniger von Ärger und Angst durchsetzt. Es geht immer wieder darum, zu schauen: Wann kommt die Angst? Denn die Angst verführt mich, den anderen zu lenken. Ich bin im Geiste immer nur beim anderen. Ich kann davon vielleicht gar nicht ablassen in dem Moment.

Aber ich kann mich beobachten, mich da hinein begeben und bemerken, was ich denke und tue. Ich kann dann bewusst versuchen, still zu werden und nicht zu „agieren“. Vielleicht merke ich, wie ich verkrampfe und die Hoffnung verliere. Doch manchmal, wenn ich resigniert bin, wenn ich aufgegeben habe, dann merke ich vielleicht, wie ich unmerklich den anderen losgelassen habe.

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Französische Links:

Sylvainviens.com
Le surcontrôle, un comportement à combattre de toute urgence.
https://www.sylvainviens.com/podcast/sur-controler-vie-lacher-prise/

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 15. Oktober 2020
Aktualisiert am 2.9.2024

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