85 Wie werde ich Psychoanalytiker*in? „Ich mache mir Sorgen um Sie.“
Der Satz „Ich mache mir Sorgen um Sie“ ist sicher einer der sensibelsten in der Psychotherapie. Es kann so vieles heißen. Das Sich-Sorgen kann anzeigen, dass eine bedeutsame Bindung zwischen Analytiker*in und Analysand*in entstanden ist. Manche erleben es vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben, dass sich überhaupt jemand um sie sorgt. Hier kann der Satz eine korrigierende emotionale Erfahrung ermöglichen. Er kann jedoch auch verunsichern und auf fruchtlose Weise beunruhigen. Der Satz kann das Gefühl auslösen, dass etwas Schlimmes passieren wird, ohne dass irgendjemand hier noch die Zügel in der Hand hätte.
„Ich mache mir Sorgen um Sie“ kann auch heißen: „Ich traue Ihnen nicht zu, dass Sie den Weg, den Sie gerade für sich suchen, auch wirklich gehen können.“ Oder existenzieller: „Ich traue Ihnen nicht zu, dass Sie das hier überleben.“ Wenn ich noch in der Ausbildung bin und mich diesen Satz sagen höre, kann ich jedoch auch überlegen, ob die Sorge mich selbst betrifft: Wenn mein Patient nicht wiederkommt, verdiene ich weniger und ich brauche einen neuen Patienten für die Ausbildung, sodass sie länger dauert.
Unter Druck
Der Satz „Ich mache mir Sorgen um Sie“ des Lehranalytikers kann uns gerade in der Ausbildung unter Druck setzen, weil wir ja oft selbst nicht verstehen, warum es uns so oder so geht. Der Satz kann so unangenehm sein, dass ich in der Lehranalyse vorsichtiger werde, zu äußern, was ich wirklich denke. Die geäußerte Sorge kann das Gefühl von Hilflosigkeit verstärken – doch wahrscheinlich spüren wir auch die nicht in Worte gefasste Sorge unseres Lehranalytikers.
Als Patient oder Ausbildungskandidat sorgt man sich möglicherweise sowieso schon um sich selbst. Wenn der Analytiker sagt: „Ich mache mir Sorgen“, kann das Gefühl von Potenzierung entstehen: „Wenn zwei sich Sorgen machen, muss es wirklich sehr schlimm sein.“ Manche Patienten testen aber auch, ob sich der Therapeut wirklich sorgt. Wieder andere haben zu Hause so Schlimmes erlebt, dass sie sich über das Sorgen des Analytikers wundern: „Wenn der Therapeut sich jetzt schon sorgt, wie wenig hat er dann selbst erlebt und wie viel kann er dann überhaupt ertragen?“
Dieser Satz macht mir Sorgen
Viele Patienten empfinden den Satz „Ich mache mir Sorgen um Sie“ als bedrohlich und irritierend. Manchmal ist er Ausdruck des Nicht-Verstehens. Manche Psychotherapeuten sprechen diesen Satz zum Beispiel aus, wenn der Patient sich selbst verletzt. Doch mehr ist dem Patienten vielleicht geholfen, wenn der Analytiker den inneren Druck versteht, unter dem der Patient steht. Wenn man begreift, dass Selbstverletzung auch ein Versuch der Selbstfürsorge sein kann, kann man therapeutisch neu damit umgehen.
„Und dann ging ich zu weit – wohin sonst hätte ich auch gehen sollen?“, sagte der Abenteurer Rüdiger Nehberg (1935-2020). Er sagte auch: „Dem Mut ist keine Gefahr gewachsen.“
Es rutscht ab!
Auch wenn der Analytiker befürchtet, eine „maligne Regression“ zu erkennen, liegt die Sorge nahe. Hier würde der Satz aber auch heißen: „Ich mache mir große Sorgen um mich selbst – ich weiß nicht, ob mir diese Analyse hier nicht entgleitet.“ Dann hat die Sorge nicht nur mit dem Patienten zu tun, sondern auch mit der Angst vor der eigenen Unfähigkeit, vor dem eigenen Nicht-Verstehen und dem eigenen Versagen. Dieser Satz kann dann dazu dienen, die eigenen Schuldgefühle wegzuschieben. Die Schuldgefühle werden verursacht durch das Gefühl, den Überblick zu verlieren und sich selbst und dem anderen nicht besser helfen zu können.
„Ich mache mir Sorgen um Sie“ kann auch heißen: „Werd‘ doch mal wach!“ Doch wer im Alptraum gefangen ist, kann nicht einfach so wach werden. Vielleicht wird der Kletterer, der am Berg fast abstürzt, erst später bemerken und erzählen, wie knapp es war. Sonst verliert er den Mut, weiterzugehen.
Bleib bei mir!
Der Satz „Ich mache mir Sorgen um Sie“ kann auch ein Ausdruck von Aggression sein. Er kann heißen: „Hast Du es denn immer noch nicht kapiert? Konnte ich immer noch keinen guten Einfluss auf Dich nehmen?“ Wenn sich jemand Sorgen um mich macht, heißt es manchmal, dass er selbst Angst hat vor dem Verlassenwerden. Für mich, als derjenigen, um die man sich sorgt, kann es sich so anfühlen, als wollte mich jemand an seiner Leine halten und als hätte er Angst vor meinen unbekannten Wegen.
An dem Satz „Ich mache mir Sorgen um Sie“ zeigt sich, wie wichtig es ist, dass wir uns als Analytiker*innen selbst gut kennen.
Die Sorge in der Philosophie
Der Philosoph Martin Heidegger schreibt im Kapitel „Das Sein und Dasein als Sorge“ (41): „Das Sichtängsten ist als Befindlichkeit eine Weise des In-der-Welt-seins. Das Wovor der Angst ist das geworfene In-der-Welt-sein; das Worum der Angst ist das In-der-Welt-sein-können.“ (S. 191) Und in der Fabel um das „Dasein als Sorge“ (S. 197) wird beschrieben, wie die „Sorge“ aus einem Stück Erde eine Form schafft. Jupiter gibt dieser Form den Geist. Solange dieses Wesen lebte, sollte es der „Sorge“ gehören (S. 198). Aus Martin Heidegger: Sein und Zeit, Max Niemeyer Verlag Tübingen, 19. Auflage 2006.
Siehe auch: Johann Gottfried Herder: Das Kind der Sorge (auf Abipur.de):
„Du (Sorge) wirst, so lang‘ es (das Wesen) nur athmet, es nie verlassen, Dein Kind.
Dir ähnlich wird es von Tage zu Tage sich mühen ins Grab.
Des Schicksals Spruch ist erfüllet und Mensch heißt dieses Geschöpf.
Im Leben gehört es der Sorge: Der Erd‘ im Sterben und Gott.“
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 1.12.2018
Aktualisiert am 30.7.2024
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