Der Now Moment (Gegenwartsmoment) in Psychotherapie und Psychoanalyse
Der „Now Moment“ ist ein Moment tiefen Verstehens, der Verbundenheit, der Resonanz. In den „Now Moments“ in Psychotherapie und Psychoanalyse findet Veränderung statt. Wenn Resonanz, Verstehen und Liebe da sind, werden wir satt. Wenn uns solche Erfahrungen in der Beziehung fehlen, dann wollen wir immer mehr: mehr Geld, mehr Essen, mehr vom anderen, mehr Abenteuer. Doch im Grunde werden wir von all dem, was wir erleben, nur dann satt, wenn wir eine befriedigende Beziehung zu uns selbst und anderen haben.
Der Begriff „Now Moment“, auch bekannt als „Moment of Meeting“ (MoM) wurde von Daniel Stern (2004) geprägt. Wir können einen Now Moment nicht bewusst herbeiführen, aber wir können die Voraussetzungen dafür schaffen.
Der Soziologe Hartmut Rosa definiert die Resonanzerfahrung so (im Vortrag „Sinnsuche und Resonanzbedürfnis“):
1. Etwas berührt mich.
2. Ich kann antworten und fühle mich selbstwirksam. Ich fühle mich durch die Begegnung nicht entfremdet, sondern mir selbst näher. Ich werde berührt, es bewegt mich und
3. ich verändere mich.
4. Resonanz enthält einen „Moment der Unverfügbarkeit“. Wir können diese Momente nicht planen, willentlich herbeiführen, festhalten oder steuern. Wir wissen nicht, was dabei herauskommt.
5. könne man sagen: Resonanz hängt auch von Äußerlichkeiten ab, z.B. vom Wetter und vom eigenen Gesundheitszustand.
Wir fühlen Resonanz leiblich. Wenn wir Tränen in die Augen bekommen, dann zeige das die „Verflüssigung“, das Weichwerden in uns, so Rosa. Weniger denken, weniger kontrollieren wollen, sich überraschen lassen – das alles fördert die Resonanz. Ebenso ereignet sich Resonanz eher in angenehmen Umgebungen und dann, wenn wir keinen Zeitdruck haben, so Hartmut Rosa.
Oft heißt es, die Wirkung der Psychoanalyse sei wissenschaftlich kaum erwiesen. In gewisser Art ist es vielleicht tatsächlich so: Wie will man diese heilsamen Momente, die nicht vorhersehbar, nicht reproduzierbar und schwer in Worte zu fassen sind, wissenschaftlich erfassen? Nur die beiden Zeugen, Psychoanalytiker und Patient, machen in dem Moment die Erfahrung, dass sich etwas verändert.
Der Now Moment ist eine „stehende Situation“, die einige Augenblicke anhält. Etwas Unbewusstes oder Vergangenes aus der Lebensgeschichte wird greifbar und lebendig im Jetzt. Diesen Moment nannte der Psychoanalytiker Daniel N. Stern (1934-2012, Wikipedia) „Present Moment“. Beide haben das Gefühl, miteinander verbunden und ganz im Hier und Jetzt zu sein, etwas sehr deutlich zu erleben oder zutiefst verstanden zu haben. Die Selbstpsychologin Denise R. Davis (International Association for Psychoanalytic Self Psychology, IAPSP) beschreibt, dass solche Momente dann entstehen, wenn der Therapeut sich gut in den Patienten einfühlen kann.
„I suggest that when the therapist is empathically immersed in the patient’s subjective world, moments of meeting are an organic outgrowth of the process and within the bounds of conventional technique.“
(Frei übersetzt von Voos:) „Wenn der Therapeut tief versunken ist in die subjektive Welt des Patienten, dann sind die ‚Momente der Begegnung‘ eine organische Blüte des Prozesses. Es geschieht innerhalb des Rahmens der konventionellen Technik.“ (Das heißt: Egal, welche psychotherapeutische Technik angewendet wird: Ein „Now Moment“ kann immer vorkommen.)
Davis, Denise R. (2015):
Moments of Meeting: A Self Psychological Approach
International Journal of Psychoanalytic Self Psychology, Volume 10, Issue 1, 2015: pages 69-79
DOI:10.1080/15551024.2015.977504
http://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/15551024.2015.977504
Verwandte Artikel in diesem Blog:
- Warum es so schwierig ist, Erfolge in der Psychoanalyse zu messen
- Schon Freud wusste: Veränderung geschieht nur durch Emotion
Links:
Hartmut Rosa:
Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung
Suhrkamp, 2016
Katherina Giesemann (2010):
Der Gegenwartsmoment in der psychotherapeutischen Arbeit.
The present moment in the psychotherapeutic work.
Boston Change Process Study Group, Psychotherapie 2010, Band 15, Heft 1, CIP-Medien, München
https://sbt-in-berlin.de/cip-medien/06.Giesemann.pdf
Daniel N. Stern:
The Present Moment in Psychotherapy and Everyday Life
New York, 2004
www.apadivisions.org/division-39/publications/reviews/present.aspx
Daniel N. Stern:
„Der Gegenwartsmoment“ – Veränderungsprozesse in Psychoanalyse, Psychotherapie und Alltag
Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Vorspohl, Verlag Brandes & Apsel, Frankfurt am Main 2005, amazon
Javiera Duarte, Claudio Martinez & Alemka Tomicic (2021):
Sparks of psychotherapeutic change:
How therapists understand moments of meetings’ contribution to change in psychotherapy
Psychotherapy Research, Routledge
https://doi.org/10.1080/10503307.2021.1948138
https://cepps.udp.cl/wp-content/uploads/2021/08/Sparks-of-psychotherapeutic-change-How-therapists-understand-moments-of-meetings-contribution-to-change-in-psychotherapy.pdf
Daniel N. Stern
Le Moment présent en psychothérapie
Le Monde dans un grain de sable
Odile Jacob publie, 1 Octobre 2003
https://www.odilejacob.fr/catalogue/psychologie/psychologie-generale/moment-present-en-psychotherapie_9782738113184.php
Vergleiche auch:
Véronique Lemaître (2002)
La consultation thérapeutique auprès d’un bébé :
de l’observation à la métaphore
Devenir, Vol. 14(2), 101-119. https://doi.org/10.3917/dev.022.0101
https://shs.cairn.info/revue-devenir-2002-2-page-101?lang=fr
„Winnicott nomme «moment sacré» (1971, p 7) ce temps des premiers contacts avec l’enfant, au cours desquels il témoigne d’une confiance particulière, comme s’il croyait en la possibilité d’être compris.“
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 5.8.2018
Aktualisiert am 11.11.2024
2 thoughts on “Der Now Moment (Gegenwartsmoment) in Psychotherapie und Psychoanalyse”
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Ja :-) Vielen Dank einmal mehr für Ihren Kommentar, liebe AnnaLenaSchmidt! Ihre Dunja Voos
Das ist schön beschrieben, liebe Frau Voos. Ich nenne diese Momente „Geschenk-Momente“, eben weil sie ein Geschenk für mich waren. Und ja, immer fand dann Veränderung statt. Da passierte was in mir. Das gibt’s auch draußen, im echten Leben. Aber in der analytischen Situation empfinde ich es intensiver. Da erlebe ich es minutiöser. Und ich merke mir das auch sehr detailliert – besonders meine Empfindungen dazu, seelisch und körperlich.