Psychoanalyse: Gesättigte Deutungen geben scheinbar mehr Sicherheit, ungesättigte Deutungen lassen mehr Spielraum

Eine gesättigte Deutung lässt keine Fragen offen und erklärt alles. Bei einer ungesättigten Deutung bleibt noch Raum, um selbst zu überlegen, was die Detung bedeuten soll. Der Münchener Theologe und Psychoanalytiker Herbert Will (DPG) hat 2016 in der Zeitschrift „Psyche“ einen sehr anschaulichen Beitrag zu den gesättigten und ungesättigten Deutungen geschrieben (Psyche 2016, 70: 2-23). Darin beschreibt er, wie der Psychoanalytiker Antonio Ferro in seiner ersten Lehranalyse-Stunde von einem Traum erzählt: „Ich liege in meinem Bett, und hinter mir sitzt ein furchterregender Wolf, der eine Brille trägt“ (S. 4).

Eine gesättigte Deutung läge hier auf der Hand: Der furchterregende Wolf mit Brille könnte der Analytiker sein, während der Patient ängstlich auf der Couch liegt. Doch Ferros Analytiker habe die Emotion angesprochen und gesagt, dass ein Kind sich fürchten müsse, wenn es einen Wolf sähe. Herbert Will schreibt: „Die ungesättigte Deutung erklärt weniger. Sie ist lakonischer. Sie nimmt stärker die Emotionen des Augenblicks auf, indem sie diese bildlich darstellt“ (Will, S. 5).

Das Konzept der ungesättigten Deutung wird häufig Wilred Bion zugeordnet, doch Herbert Will schreibt: „Denn so häufig er (Ferro) auf Wilfred Bion verweist, von dem die ungesättigte Deutung stammen soll, so wenig fand ich sie bei Bion.“ (S. 6)

Vom Vor-Gefühl zum reifen Gefühl

Herbert Will beschreibt sehr anschaulich, wie aus „Proto-Emotionen“ Gefühle entstehen. Zuerst gibt es ein undefinierbares „Irgendwas“ – ein Gefühl, das sich kaum beschreiben lässt. Man kann dieses Gefühl vielleicht „präsentieren“, also zeigen, aber nicht „repräsentieren“, also man kann nicht verständlich darüber sprechen. Doch hieraus kann ein Bild entstehen (Figuration) und dieses Bild kann man schließlich in Worte fassen. Durch ungesättigte Deutungen, durch Einfühlen, kann der Analytiker dem Patienten bei diesem Vorgang helfen. Begleitend zur ungesättigten Deutung könne sich auch das Gefühl verändern: Aus dem Gefühl der Bedrohung könne unter Umständen das Gefühl der Sicherheit entstehen. Dann hat eine Transformation stattgefunden.

Gesättigte und ungesättigte Deutungen ergänzen sich

Während Ferro die ungesättigten Deutungen bevorzugt, findet Herbert Will, dass sich ungesättigte und gesättigte Deutungen ergänzen sollten. Gesättigte Deutungen könnten Sicherheit bieten und beruhigend wirken. Die gesättigte Deutung sei eher sekundärprozesshaft und wende sich an den Verstand des Patienten. Sie sorge für Einsicht und für das Gefühl des Getrenntseins zwischen Analytiker und Patient, erklärt Will. Dennoch müsse man vorsichtig mit gesättigten Deutungen umgehen:

„Bezoari & Ferro (1989, Listening, interpretations and transformative functions in the analytical dialogue. Rivista di Psicoanalisi 35: 1014-1050) erwähnen Patienten, die direkte Übertragungsdeutungen nicht vertragen, und bei denen es hilfreich ist, die Interventionen in Worte und Bilder zu kleiden, welche von den Patienten selbst stammen. Derart ‚eingekleidete‘ Deutungen sind konzeptuelle Vorläufer der späteren ungesättigten Deutung“ (Will, S. 7).

Feingefühl bleibt wichtig

Ob der Analytiker nun gesättigte oder ungesättigte Deutungen gibt – eines sei wichtig: „dass der Deutungsstil des Analytikers geschmeidig und den Aufnahme- und Verdauungsfähigkeiten des Patienten angemessen“ ist (Will, S. 21, nach Ferro 2015: Marcella. Von explosiven Sinnesempfindungen zur Fähigkeit zu denken. Forum der Psychoanalyse 31: 161-173).

Mit herzlichem Dank an Dr. Herbert Will für die Zusendung des Materials.

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 18.6.2017
Aktualisiert am 18.9.2024

Schreibe einen Kommentar