Neurosenpsychologische Diagnosen: psychoanalytische Diagnosen früher und heute
Früher behandelten Psychoanalytiker eher reifere Patienten mit neurotischen Konflikten – oder sie dachten, sie täten es, da es noch nicht so viel Wissen über frühkindliche Traumatisierungen gab (man denke an „Der kleine Hans“ von Freud, der aus heutiger Sicht wohl schwer traumatisiert war, siehe z.B. Gassenhuber, PDF). Entsprechend vergaben Psychoanalytiker nicht nur Diagnosen nach ICD, sondern auch neurosenpsychologische Diagnosen. Heute stehen oft sogenannte Persönlichkeitsstörungen im Vordergrund. Hier gebe ich Beispiele von Diagnosen von Anfang der 2000er Jahre bis jetzt. Neurosensychologische Diagnosen klangen oft blumig, wie z.B. „Mittelschwere depressiv-hysterische Neurose in Verbindung mit einem psychotraumatischen Belastungssyndrom (nach Fischer und Riedesser 1999) bei sexuellem Missbrauch“ (Psychotraumatherapie: Tiefenpsychologisch-imaginative Behandlung von traumatisierten Patienten. Schattauer, 2006, amazon). Der Psychoanalytiker Roderich Hohage (DPV) erklärt: „Die vollständige Diagnose (hat) drei Teile; in der Praxis reicht es aber aus, wenn zumindest zwei der drei Teile sinnvoll miteinander verbunden werden.“
Die drei Teile der Diagnose (Hohage 2004):
Teil 1 = Symptomatik des Patienten (kann entfallen, wenn „eindeutig abgrenzbare Symptome fehlen“)
Teil 2 = Psychodynamik, z.B. Konfliktdiagnose nach der Operationalisierten Psychodanymischen Diagnostik (OPD), z.B. „Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt“.
Teil 3 = struktureller Anteil, also „typische Charakterformationen, typische Persönlichkeitsstörungen oder andere strukturelle Merkmale“ (Hohage), z.B. „Depressive Dekompensation einer Persönlichkeitsstörung mit histrionischen Zügen“.
Beispiel für eine neurosenpsychologische Diagnose:
„Die Patientin zeigt das Bild einer leichten depressiven Episode (ICD-10 F32.0) bei anankastischer und ängstlich-dependenter Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F60.5 und F60.7) auf neurotischem Niveau.“
Quelle: Peter Wollschläger: Mit Hilfe der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik zum Gutachtenantrag für tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Psychotherapie 16. Jahrg. 2011, Bd. 15, Heft 1: https://sbt-in-berlin.de/cip-medien/06.Wollschlaeger.pdf
Mit der ICD 11 (herausgegeben im Januar 2022) wurden die einzelnen Persönlichkeitsstörungsdiagnosen abgeschafft (bis auf das Borderlinemuster). Es gibt nur noch die Entscheidung „Persönlichkeitsstörung ja/nein? und die Angabe des Niveaus: gut, mäßig, gering integriert oder desintegriert. Zudem gibt es inzwischen die OPD 3. Die klassischen neurosenpsychologischen Diagnosen und die heutigen OPD-Diagnosen sind vielleicht langsam ineinander übergegangen. Stephan Döring, Professor für Psychoanalyse an der Uni Wien, fragt in seinem Vortrag am 14.10.2022, welche Form der Diagnosestellung besser sei: OPD3 oder OPD2?
„Mittelgradige Persönlichkeitsstörung mit
negativer Affektivität, Dissozialität und Enthemmung
ICD-11: 6D10.1/ 6D.11.0/ 6D11.2/6D11.3
oder doch lieber
Histrionische Persönlichkeitsstörung
mit ödipalem Konflikt auf mäßig bis geringem
Strukturniveau (2,5) nach OPD-2?“
Stephan Döring:
ICD 11 und Persönlichkeitsstörungen
Kongress am 14.10.2022, Wien PDF
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Literatur:
Roderich Hohage (DPV)(2004, 2011):
Neurosenpsychologische Diagnose
In: Analytisch orientierte Psychotherapie in der Praxis
Diagnostik, Behandlungsplanung, Kassenanträge
Schattauer-Verlag, 2011, amazon
Rudolf Gaßenhuber, 2012:
Der kleine Hans, der arme Hans
Über die Unberührtheit in der psychoanalytischen Tradition – eine Leseerfahrung
Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewisssenschaft und
Psychologische Medizin, Heft 03/2013
http://www.gassenhuber.de/kontingenz/artikel/theorie/DerArmeHans.pdf
„Ich gehe weiter der Frage nach, wie kann es bei diesen beiden Pionieren und teilweise in der psychoanalytische Tradition bis heute zu dieser Realitätsabwendung kommen. Was bewirkt diese
Haltung und welchen Gewinn bringt sie dem Analytiker?“
Psycho-Revolution: Neustart für die Diagnosen der Psychiatrie, 8.9.2022
https://www.deutschlandfunk.de/psychiatrie-diagnosen-icd-100.html
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 19.4.2017
Aktualisiert am 25.1.2024