Sind Menschen mit einer Borderline-Störung wirklich unersättlich?

„Borderliner werden nie satt! Sie saugen Dich aus, bis Du keine Kraft mehr hast. Sie sind unersättlich!“ Sätze wie diese hört man manchmal von erschöpften Therapeuten. Dasselbe sagt man manchmal über Kinder. Aber: Sind die Betroffenen wirklich unersättlich? Wenn man schon von Unersättlichkeit spricht, könnte man auch fragen: Wann erscheint jemand unersättlich und wie ließe sich das verstehen? Unerstättlichkeit entsteht doch nur dann, wenn die richtige Befriedigung bisher nicht gefunden wurde. Das Ziel eines unzufriedenen Kindes oder Erwachsenen ist es doch meistens, zurück zur Zufriedenheit, zur eigenen Mitte zu gelangen. Das Bestreben, auf ungesunde Weise immer mehr zu wollen, kommt, wenn man immer knapp am befriedigenden Ziel vorbeischießt.

Wenn das Baby weint, weil ihm kalt ist, dann hilft ihm vielleicht kurzfristig das Gefüttertwerden, aber die Hilfe geht am echten Bedürfnis vorbei. Da die Nahrung ein bisschen wärmt, wird das Baby etwas befriedigt sein, doch sein stärkeres Bedürfnis ist es vielleicht, gewärmt zu werden. So wird das Baby vielleicht unersättlich erscheinen. Doch es wird sofort „satt“, wenn jemand erkennt, dass es eine Decke braucht oder Körperwärme. „Sattsein“ heißt, gefüllt zu sein mit dem Richtigen – wenn ständig das Richtige fehlt, erscheint man als unersättlich.

Wenn der andere als hungrig phantasiert wird

Mitunter wuchsen Menschen mit einer sogenannten „Borderline-Störung“ bei Müttern auf, die selbst emotional nicht satt geworden sind. Das heißt, das Kind hat vielleicht auch das Gefühl oder die Vorstellung, dass der andere hungrig ist – daher darf es auch selbst nicht satt sein. Das Kind hat also möglicherweise eine bedürftige Mutter, die selbst großen Mangel hat. Die geschwächte Mutter hat vielleicht keine ausreichend gute Intuition für das Kind, sodass sie sich am Formalen festhält. „Jetzt habe ich dir extra etwas Gutes gegeben, und Du sagst noch nicht einmal Danke!“, lautet der Vorwurf der Mutter an das Kind. Sie hat nur gegeben, um ein Danke zu hören und sich damit zu beruhigen. Die Beziehungsformel lautete: „Ich drück bei dir ein Knöpfchen und du musst reagieren, damit ich beruhigt bin. Bleibt deine Reaktion aus, so werde ich unruhig.“ Das bedeutet übersetzt häufig: „Ich habe Angst, dass wir unverbunden sind und einander nicht verstehen.“

Entsetzlich unersättlich? Nein. Jeder kann „satt“ werden. Bei manchen sieht es nur so aus, als hätten sie eine „Sattwerde-Behinderung“.

Selbstverständliches macht satt

Ein gesundes Geben und Nehmen zwischen Mutter und Kind könnte so aussehen:

„Ich gebe dir etwas, weil mein Instinkt, meine Intuition, mein Gefühl es mir sagen. Ich gebe dir etwas und es macht auch mich zufrieden. Ich werde ruhig davon. Ich sehe, dass es richtig und gut war. Dass du genau das brauchtest. Du wirst ruhig davon. Da ist keiner, der hektisch hinter dir steht und sagt: ‚Was sagt man da?‘ Keiner, der ein ‚Danke‘ einfordert, weil der Vorgang so natürlich und organisch ist, dass du mir dein ‚Danke‘ zeigst durch deinen Blick und dein Ruhigwerden. Dein Ruhigwerden heißt für mich nicht, dass du mich allein zurücklässt, dass du mich vergisst oder unbeachtet lässt. Es heißt für mich, dass es eine gute Bindung gibt zwischen dir und mir. Ich konnte dir geben, was du brauchst und ich sehe, dass es gut war und das macht mich froh. Und du darfst einschlafen und ich schlafe auch ein.“ So kommt es zu einem ruhigen Ende des Vorgangs. Das lässt sich auch übertragen auf die Therapiesituation.

Ein Kreislauf

Der „ewige Hunger“ des Kindes oder des sogenannten „Borderline-Patienten“ ist nicht unbedingt nur der Hunger des Betroffenen selbst. Es kann auch der Mangel sein, den der „Borderliner“ beim anderen vermutet. Das Kind fühlt sich in die emotional hungrige Mutter ein. Das Kind einer sorgenvollen Mutter vermutet auch später beim anderen oft einen Mangel. Dann kommt eine Kommunikation zustande, die unruhig ist und die aus hektischem Geben und Fordern besteht und die wie ein „unersättlicher Hunger“ erscheint.

Viele Menschen mit einer sogenannten „Borderline-Störung“ haben oft auch einem gesunden Menschen gegenüber die Phantasie, er könnte in Not sein und selbst Hunger oder Mangel haben. Der Betroffene ist ständig unruhig und besorgt um den anderen, der auch nicht satt zu werden scheint. Der „unzufriedene Therapeut“ scheint so jemand zu sein. Der Hunger nach der Befriedigung in der Beziehung wächst.

Hinzu kommt, dass sich viele Betroffene schämen. wenn sie bekommen, was sie brauchen. Es zeigt, wie sie sind, es zeigt ihre Abhängigkeit und ihr wahres Bedürfnis. Etwas zu bekommen und anzunehmen kann auch als etwas Intimes empfunden werden. Die eigene Scham macht die Betroffenen unzufrieden und lässt sie nicht bekommen, was sie brauchen.

Wahre Mangelgefühle und Bedürfnisse werden nicht gespürt, sondern auf eine formale Ebene verschoben, zum Beispiel indem man sich gegenseitig sagt, man müsse doch dankbar sein oder den Verpflichtungen in der Beziehung nachkommen. Der Kreislauf kann durchbrochen werden, indem allen Beteiligten bewusst wird, was passiert.

Deshalb dauert Psychoanalyse so lange.

Der Patient kann erst langsam verstanden werden und er kann es erst zögerlich wagen, das Gute anzunehmen. „Sattwerden durch das Passende“ kann sich dann endlich zeigen. Unpassendes wird viel leichter toleriert, wenn das Gefühl da ist, dass die Basis stimmt. Zu dem „Richtigen“ kann z.B. auch das Gewahrwerden von Trauer sein. Hinter vielen nervigen Kreisläufen steckt eine unerkannte Trauer.

Dabei wird die Suche nach dem Richtigen oft durch die Scham behindert.

Es kann aber auch das Erkennen ganz basaler Bedürfnisse sein, das hilft – wer sich (psychisch oder körperlich) entleeren will, wird unruhig. Nur wenn das echte Bedürfnis hinter dem Kampf erkannt wird, kommt Ruhe hinein. Manchmal erst dann, wenn der „Borderliner“ wirklich beruhigt ist, kann er sich tiefer vorstellen, dass genau diese Ruhe auch der andere empfindet. Dadurch kann der Betroffene endlich aufhören, sich mit dem Hunger des anderen zu beschäftigen und ihn füttern oder beruhigen zu wollen. Er kann erfahren, dass er satt sein darf, auch wenn er nicht genau weiß, ob der andere selbst wirklich satt ist. Er traut dem anderen Selbstregulation zu.

Bindung wird gerade dann zufriedenstellend, wenn einer nichts mehr mit dem anderen „macht“. Beide können sich dann erlauben – sofern es die Scham schon zulässt – ruhig, zufrieden und satt zu sein. Sowohl die Abhängigkeit (also das Gefüttertwerden) als auch die Trennung vom anderen (durch In-Ruhegelassen-Werden) muss dann nicht mehr so stark abgewehrt werden.

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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 26.3.2017
Aktualisiert am 13.2,2024

3 thoughts on “Sind Menschen mit einer Borderline-Störung wirklich unersättlich?

  1. Dunja Voos sagt:

    Sehr geehrte/r @Dehring,
    herzlichen Dank für Ihren Kommentar. Mein Beitrag war aus dem Jahr 2017 und ich habe ihn beim nochmaligen Durchlesen selbst teilweise als unverständlich empfunden. Ich habe ihn nun aktualisiert.

  2. F. Dehring sagt:

    „Den Borderline-Patienten“ gibt es nicht. Mit stark verallgemeinernden Aussagen darüber wie ein „Borderliner“ sich verhält oder was er denkt sollte vorsichtig umgegangen werden.
    Die Erkrankung hat 256 verschiedene Ausprägungen und Komorbitäten mit anderen Erkrankungen, auch gibt es Abstufungen in der Schwere und Stärke der Erkrankung.
    Dass Borderline-Betroffene z.B. „ständig phantasieren, der andere wäre hungrig“ und entsprechende Verhaltensweisen zeigen, ist ein Beispiel von vielen, das nicht zutreffen muss, zumal es auch Komorbitäten mit narzisstischen oder antisozialen Persönlichkeitsstrukturen geben kann.
    Ich finde Wortwahl des ständigen Phantasierens tatsächlich alles andere als wertneutral, denn Phantasieren bedeutet, sich etwas unmögliches auszudenken. In diesem Fall geht es aber um alte Beziehungserfahrungen, die über neue Beziehungen gelegt werden. Es ist eine Fehlinterpretation und keine Phantasterei, da solche ungesunden Beziehungsdynamiken existieren und nicht jeder Lese*r/jede Leserin versteht sofort, wovon hier die Rede ist.
    Auch der Begriff einer „Satt-Werde-Behinderung“ impliziert, dass die Störung nicht heilbar ist, auch wird sprachlich wieder stark polarisiert zwischen Beziehungsbehinderten und -gesunden.
    Da diese Erkrankung sowieso sehr stark stigmabehaftet ist und überwiegend negativ wahrgenommen wird, trägt dieser Text meiner Meinung nach nicht zum besseren Verständnis bei, im Gegenteil.

  3. modean sagt:

    In meiner Therapie war es so, dass ich eigentlich Co-Analytiker war und staendig gegeben habe. Ebenso habe ich mich am Ende einer jeden Sitzung bedankt.

    Dem Therapeuten war dann wohl zumindest in der Gegenuebertragung bewusst, dass da etwas nicht ganz zusammen passt. Also wurde mein Geben und mein Dankeschoen sagen damit quittiert, dass ja eigentlich der Therapeut der waere, der in meiner Schuld stuende und sich bedanken bzw. noch viel mehr bedanken muesse als ich dies am Ende einer jeden Sitzung mache.

    Am Ende habe ich mich dann trotzdem, wie immer, bedankt und dafuer gefuehlt ein sehr nuechternes fast entnervtes Ja bekommen.

    Es war schon immer so, dass ich in Beziehungen immer zuerst gegeben habe. Rational habe ich das als Vertrauensvorschuss verbucht. Irgendwann hatte ich mich in die Spieletheorie eingearbeitet und mir so eingeredet, dass ich im Leben eben nach dem Tit for Tat Prinzip verfahren wuerde.

    Im Grunde denke ich aber, ist es so wie oben beschrieben, ich gehe einfach davon aus, dass auf der anderen Seite ein Mangel besteht und ich so in Vorleistung gehen muss. In der Therapie wurde das staendige Geben nicht weiter bearbeitet und so denke ich blieben die tieferen Motive verborgen.

    Vielleicht ist es auch eine Art Reparatur an einer Beziehung an der eigentlich gar nichts kaputt ist.

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