Reizdarm: Psyche und Körper arbeiten zusammen

Wer an Reizdarm leidet, der braucht vor allen Dingen eines: eine eigene Toilette und viel Zeit. Insbesondere in den Morgenstunden solltest Du Dir – wenn eben möglich – viel Zeit einrichten. Neben den körperlichen Ursachen sind auch die psychischen Begleitphänomene interessant. Das Reizdarmsyndrom verschlimmert sich häufig im Kampf um Pünktlichkeit. Der Wunsch ist da, allein und ungestört zu sein. Man möchte nichts „vor sich haben“, doch die Umwelt wirkt mit ihren Erwartungen unbarmherzig: Du sollst funktionieren. Und das erwartest Du auch von Dir selbst.

Wenn Du irgendwo bist, wo Du nicht auf Toilette kannst, erscheint Dir die Umwelt feindlich. Wenn Du vor einer Haustür warten musst und Dir erst spät aufgemacht wird, könntest Du den anderen für seine Ahnungslosigkeit verachten. Das Gegenüber erscheint wie eine Wand aus Unbarmherzigkeit.

Tipp: Du kannst versuchen, einen Euro-WC-Schlüssel zu beantragen. Mehr Infos beim Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter e.V., https://www.bsk-ev.org/informieren/der-euro-wc-schluessel

Der andere wird als fordernd erlebt und als jemand, dem Du nicht mehr aus dem Weg gehen kannst. Die anderen Menschen werden wie ein Entzug der persönlichen Freiheit erlebt. Dabei ist der Körper der Fordernde – er braucht jetzt die Entleerung.

Bei Angststörungen kann der Darm manchmal kurz vor dem spürbaren Entleerungs-Druck zu Angstgefühlen führen. Oder umgekehrt: Angst kann zu Darmdruck führen.

Gedanken und der Dickdarm

Unsere Gedanken und Gefühle wollen wir „ausdrücken“. Sie zeigen sich in Wort, Mimik und Stimme, aber auch in Form von Gerüchen. Doch was machen wir mit Gedanken und Gefühlen, die wir nicht ausdrücken dürfen oder wollen? Sie drücken auf den Magen, machen uns Bauchschmerzen und sie machen uns unruhig. Kleine Babys strampeln unruhig mit den Beinen, wenn sie sich entleeren müssen. Uns wird zudem manchmal heiß, wenn der Druck kommt.

Sprachlich finden sich viele Verbindungen zwischen dem Dickdarm und den Gedanken. Wir wollen keinen „Mist von uns geben“ und kommen manchmal einfach nicht zu Potte. Wir wollen eigentlich niemandem „in den Arsch kriechen“ – und tun es doch manchmal. Wir lassen uns „bescheißen“ und wünschen uns einen Dukatenesel, der Geld von sich gibt. Geld stinkt nicht und es könnte uns von innerem Druck befreien.

Mit Druck funktionieren weder Stuhlgang noch das Denken. Am besten funktioniert der Darm, wenn wir nicht über ihn nachdenken müssen. Wenn wir zur Toilette gehen können, wenn wir müssen, ist alles gut. Doch wenn wir nicht zur Toilette gehen können, obwohl wir müssen, können sich Reizdarmsymptome verstärken: Krämpfe, Verstopfung und Durchfall sind die Folge. Hinzu kann das Problem der Scham kommen, wenn wir in unangemessenen Situationen plötzlich zur Toilette müssen. Wie soll man danach fragen? Auch die Sorge, auf der Toilette von anderen gehört zu werden, kann einengen. Die Angst vor dem Stuhlgang im Allgemeinen und/oder auf öffentlichen Toiletten heißt Rhypophobie (rhypo = altgriechisch „Dreck, Schmutz“).

Normalerweise wird Wasser im Darm zurück in die Blutbahn resorbiert. Bei Durchfällen ist es umgekehrt: Da heißt es „Wasser marsch“. Paradoxerweise hast Du vielleicht das Gefühl, dass im Darm ein Feuer brennt. Im Yoga heißt das Verdauungsfeuer „Agni“ (siehe https://www.european-ayurveda.at/agni/).

Der Dickdarm ist nach traditionell chinesischer Medizin verbunden mit der Lunge – auch hier geht es beim Ausatmen um das entspannte Loslassen. Tägliche Atemübungen wie z.B. die Ujjayi-Atmung aus dem Yoga, können meiner Erfahrung nach bei Reizdarm etwas helfen (siehe auch Dania Schumann et al., 2016). Dickdarm und Lunge sind nach traditionell chinesischer Medizin auch mit der Haut verbunden. Es gibt die Vorstellung, dass die Lunge die eingefaltete Haut von oben und der Darm die eingefaltete Haut von unten ist. Die Haut ist ein Ausscheidungsorgan, aber auch ein Kontaktorgan. Der Reizdarm tritt sehr oft in Situationen des Kontaktes auf. Der zwischenmenschliche Kontakt macht Druck. Manchmal bekommen wir Durchfall nur dann, wenn wir einer bestimmten Person gegenüberstehen. Die Aggression oder Erregung zu spüren ist wichtig – schon allein das kann helfen, den Druck im Darm zu kanalisieren.

Im Zusammenhang mit Darmkrankheiten ist oft die Rede von „Entgiften, Sanieren und Reinigen“. Wer schmutzige Gedanken hat, ist ein schlechter Mensch. Die Vorstellung, einen sauberen Darm zu haben stimmt mit der Vorstellung überein, innerlich rein zu sein. Wir wollen uns erleichtern.

Bewegung und Imaginationen können helfen

Tägliche Bewegung, am besten ein Ausdauersport, kann den Darm beruhigen. Aus chinesischer Sicht wird beim Sport das Lungen-Chi gestärkt, was wiederum zu einem gesunden Darm führt.

Manchmal hilft die Vorstellung, dass man seinen inneren Raum erweitert – psychisch wie körperlich. Man kann sich darin üben, „Ungelöstes“ langsam besser zu tolerieren und Problemen einen inneren Platz zu geben. Auch die Imagination, dass man um sich herum noch einen kleinen Vorgarten mit Zaun hat, der einem Abstand zum Nächsten gibt, kann helfen.

Entschleunigung ist wichtig. Den Druck aus dem Leben zu nehmen, hilft beim Reizdarmsyndrom. Gehe in Deinen Planungen – falls möglich – immer nur so weit, bis Du innerlich an die Grenze des Drucks gerätst. Dann gehe einen Schritt zurück. Nimm nicht auch noch in Deinen Plan auf, was Dir schon gedanklich Druck bereitet. Das ist in vielen Lebensphasen kaum möglich – aber wenn es möglich wird, verbessert sich der Reizdarm oft enorm.

Ich denke, dass der körperliche Anteil beim Reizdarm überwiegt. Da hilft über die Jahre nur eine Ernährungsumstellung sowie die Stabilisierung des vegetativen Nervensystems über Sport, Yoga, Singen, Meditation usw. Lass Dich nicht von einfachen Sichtweisen irritieren: Probiere aus, was Dir gut tut und lass Dich nicht von zu vielen Tests verunsichern (Fruktoseintoleranz, Histaminintoleranz, Laktoseintoleranz etc.).

Das reale Leben kann nochmal anders aussehen – beispielsweise wird heute oft dazu geraten, Milchprodukte wegzulassen. Aus eigener Erfahrung kann ich z.B. sagen, dass Kakao und Milch im Kaffee bei mir entscheidende Faktoren sind, um den Reizdarm zu beruhigen. Eine gesunde Ernährung insgesamt, ist sicher hilfreich, aus meiner Sicht insbesondere auch das Weglassen von Zucker und von industriell gefertigter Nahrung. Je mehr Du selbst zubereiten kannst, umso besser.

Vielleicht kannst Du Dir über die Jahre Dein Leben so einrichten, dass Du Raum zu gutem Kochen und Backen hast – das ermöglicht Dir mit großer Wahrscheinlichkeit auch, Deine Reizdarmbeschwerden über die Zeit deutlich zu lindern oder sogar zu verlieren. Das kann jedoch Jahre dauern – wenn Du noch kleine Kinder hast oder viel arbeiten musst und Geldsorgen hast, kann der Reizdarm eine ganze Lebensphase zu Dir gehören. Reizdarm ist eng verbandelt mit der Stuhlinkontinenz. Bei Frauen können auch die Wechseljahre erheblichen Einfluss auf Reizdarmsymptome und Stuhlinkontinenz haben. Da hilft es immer nur, sich schlau zu machen, auszuprobieren und mit anderen Betroffenen über die Probleme zu sprechen.

Reizdarm ist hartnäckig. Meiner Erfahrung nach hilft nur eine ganzheitliche Lebensveränderung über viele Jahre. Wer noch kleine Kinder hat, alleinerziehend ist oder große Geldnöte hat, kann sich dem „Druck“ kaum entziehen. Konsequente Ernährungsumstellung und Selbst-Kochen und -Backen braucht oft viel Zeit, die man im Berufsalltag kaum hat. Doch man kann darauf hinarbeiten, dass das Leben langsamer und weniger druckhaft wird

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Links:

Magnus Halland and Yuri A Saito (2015)
Irritable bowel syndrome: new and emerging treatments
BMJ 2015;350:h1622
doi: https://doi.org/10.1136/bmj.h1622
https://www.bmj.com/content/350/bmj.h1622
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26088265/

Professor Amarjeet Singh M.D.
School of Public Health, Postgraduate Institute of Medical Education and Research, Chandigarh, India
Changing the Toilet Design –
An Intervention With Enormous Health Promotion Impact: Use Pattern of Squatting and Pedestal Latrines in India. PDF

Health Promotion – Need for Public Health Activism

Sigmund Freud (1917):
Über Triebumsetzungen, insbesondere der Analerotik
„Ausgangspunkt dieser Erörterungen kann der Anschein werden, daß in den Produktionen des Unbewußten – Einfällen, Phantasien und Symptomen – die Begriffe Kot (Geld, Geschenk), Kind und Penis schlecht auseinandergehalten und leicht miteinander vertauscht werden.“
Projekt Gutenberg

Andrea Domján (2010)
Der Darm – ein mystisches Organ
Facharbeit zur Fünf-Elemente Ernährungsausbildung in der traditionell chinesischen Medizin
Bacopa Bildungszentrum, Schiedlberg, 2010
https://www.bacopa.at/odok/btna/domjan001.pdf

Zur Fragen der Ernährung:
Die Buchautorin Michaela Barthel hat mit ihrem Buch „Adieu Colitis“ (Vitale-Landkueche.de) schon vielen Menschen mit Colitis, Morbus Crohn und Reizdarm geholfen. https://vitale-vollwertkost.de/product/adieu-colitis-meine-wege-aus-der-krankheit

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 14.7.2015
Aktualisiert am 15.3.2024

Schreibe einen Kommentar