Selbsthilfe bei Hyperventilation
„Hilfe, ich ersticke!“, meinst Du vielleicht, wenn Du gerade hyperventilierst. Die plötzlich gefühlte Atemnot ist fies. Manche Menschen leiden den ganzen Tag unter dem Gefühl, nicht richtig durchatmen zu können und denken immerzu gequält ans Atmen. Andere sind besonders beim Einschlafen davon betroffen. Wenn Du darunter leidest, hast Du vielleicht schon oft Ärzte aufgesucht, ohne dass sie etwas finden konnten. Asthma und Herzprobleme wurden ausgeschlossen.
Die Atmung besteht zum einen aus dem „Luftholen“, also der Atembewegung, zum anderen aus dem Gasaustausch an den kleinen Lungenbläschen, den Alveolen. Bei der Hyperventilation holen die Betroffenen so viel Luft (hyper = griechisch: übermäßig), dass das Gehirn meldet: „Jetzt ist es genug.“ Daher kann es helfen, für ein paar Sekunden bewusst die Luft anzuhalten. Als „innere Atmung“ wird auch der Gasaustausch in den Zellen des Körperinneren bezeichnet.
Leiden ohne Diagnose
Es ist auch möglich, dass wir Du so flach geatmet hast, dass der Körper denkt, die Atmung hätte nicht mehr stattgefunden. Damit wir nicht das Gefühl von Luftnot haben, ist es notwendig, dass wir die Bewegung der Atemluft spüren – durch die Nase, den Hals und die Luftröhre. Auch möchte der Körper spüren, dass sich die Lungen entfalten und sich das Zwerchfell bewegt. Ist die Atmung zu flach, kann der Körper Warnsignale in Form des Gefühls von Atemnot abgeben (siehe auch Prakash Malshe: A Medical Understanding of Yoga, amazon).
Wenn Du psychisch bedingte Atemnot hast, greife mit Daumen und Zeigefinger an Deine Nasenscheidewand und drücke sie. Das verringert oft das Gefühl von Atemnot.
Manchmal hat man das Gefühl, man könne den Brustkorb nicht ausreichend weiten oder es fühlt sich so an, dass sich der Brustkorb weitet, ohne dass es zu einem Gasaustausch kommt. Es kann helfen, die Arme nach hinten zu nehmen, sodass sich der Brustkorb weitet. Auch die Yoga-Übung „Kapalabhati“ (Youtube-Videos, aber vorsichtig anwenden) kann helfen.
Hyperventilation und die dramatische Rettung
In Filmen sind es zumeist junge Frauen, die hyperventilieren. Dann kommt ein attraktiver Mann und hält ihr eine Plastiktüte vor’s Gesicht. Bald beruhigt sich die Frau und ist von ihrer Atemnot befreit. Auch in der Realität kommt es vor, dass unsensible Ärzte den Patientinnen (oft sind es Frauen) eine Tüte vor Mund und Nase halten, was die Betroffenen nicht selten in Angst und Schrecken versetzt. Meistens reichen beruhigende Gespräche oder das Ein- und Ausatmen in den eigenen Ärmel.
Warum die Plastiktüte bei Hyperventilation? Wenn sich „zu viel“ Sauerstoff im Blut befindet, dann ist „zu wenig“ Kohlendioxid (CO2) vorhanden. Atmet man in eine Plastiktüte aus und danach wieder ein, so atmet man das Kohlendioxid aus der eigenen Atemluft wieder ein. So gleicht man das Verhältnis der Atemgase im Körper langsam wieder aus.
Tipps bei Hyperventilation
Wenn Du hyperventilierst, halte Deinen Arm vor die Nase und atme durch den Ärmel ein und aus. Du kannst Dir auch ein Nasenloch zuhalten, sodass nur noch die Hälfte der Luft hineinkommt. Oder Du drückst beim Ausatmen leicht gegen die Nasenlöcher, damit sich der Atemwiderstand beim Ausatmen erhöht.nManchmal hilft es auch, die Luft für einen Augenblick anzuhalten oder den Raum zu verlassen.
Vielleicht kannst Du Dir vor der Tür sagen: „Ich bin so sauer!“, denn oft ist Hyperventilation ein Anzeichen unbemerkten Ärgers oder unausgesprochener Worte. Du hast unbemerkt „Die Luft angehalten“, um nicht sauer loszuschreien.
Ein Finger-Puls-Oxymeter kann Dich beruhigen. Dieses kleine Gerät ermittelt am Zeigefinger über Lichtsignale den Sauerstoffgehalt im Blut. Hieran kannst Du dann sehen, dass Deine Sauerstoffwerte im Blut normal sind. Finger-Puls-Oxymeter kannst Du im Internet bestellen oder in der Apotheke kaufen. Manche Menschen beruhigen sich durch solche Kontrollmöglichkeiten, andere macht es nur noch verrückter, weil sie jede noch so kleine Abweichung vom Normalen direkt hochschrecken lässt. Probiere aus, was Dir am besten hilft.
Unter Freunden und Kollegen
Vielleicht hyperventilierst Du gerade, wenn Du mit Menschen zusammen bist, die Dir viel bedeuten. Möglicherweise hast Du zwiegespaltene Gefühle wie Zuneigung, Eifersucht oder Ärger und es fällt Dir schwer, Deine Geüfhle auszudrücken. Bist Du Dir über Deine Gefühle im Klaren, kannst Du darüber nachdenken oder auch darüber sprechen. Häufige Auslöser von Hyperventilation ist eine verspannte Körperhaltung, wenn Du gerade von etwas gebannt ist. Auch, wenn Du weinen könntest, dies aber unterdrückst, hyperventilierst Du unter Umständen. Oder Du hast Angst vor einem Vortrag. Dann wird es Dir eng ums Herz und Du möchtest Dir Luft verschaffen. Wortwörtlich.
Auch, wenn es sich furchtbar anfühlt: Die Hyperventilation ist harmlos. Selbst wenn es zu Kribbelgefühlen oder Handkrämpfen kommt, gehen die Symptome folgenlos zurück.
Psychotherapie kann helfen
Hyperventilation kann in aufregenden und verkrampften Lebensphasen gehäuft vorkommen. Solltest Du sehr darunter leiden, kannst Du es mit einer Psychotherapie versuchen. Dort findest Du heraus, welche Gefühle nicht gefühlt werden wollen oder dürfen. Hilfreich wäre auch traditionelles Yoga im Einzelunterricht, da Du hier auf Dich zugeschnittene Übungen erhältst, insbesondere Atemübungen (Pranayama). Du lernst, früher zu spüren, wann Du in eine verkrampfte Körperhaltung kommst. Beim Yoga machst Du Dir Deine Atmung sehr bewusst, sodass Du sie paradoxerweise dann für den Rest des Tages leichter vergessen kannst. Mithilfe der Atemübungen hast Du das Gefühl, Dir einen inneren Raum zu schaffen – sowohl körperlich als auch psychisch. So kommst Du nicht mehr so rasch in Bedrängnis und kannst leichter durchatmen.
Eine längere Psychotherapie kann dann sinnvoll sein, wenn sich sehr ernste psychologische Hintergründe für die Hyperventilation herausstellen wie z.B. sexueller Missbrauch. Bei Angststörungen treten Hyperventilationssymptome sehr häufig auf – und zwar so häufig, dass manche Wissenschaftler die Hyperventilation mit der Panikstörung quasi gleichsetzen (siehe Links: Speich und Büchi, 2001).
Verwandte Artikel in diesem Blog:
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- Atemnot beim Essen
- Respiratorische Psychophysiologie
- Polyvagaltheorie
- Asthma durch Verkrampfung des unteren Rückens
Links:
Oriana Walker & Arthur Rose:
The Forgotten Obious: Breathing in Psychoanalysis
In: The Life of Breath in Literature, Culture and Medicine: Seiten 369-390
Open Access, 2.10.2021, palgrave macmillan
https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-030-74443-4_18
Life of Breath:
A medical humanities research project exploring breathing and breathlessness (2015-2020)
https://lifeofbreath.webspace.durham.ac.uk/
Nijmegen Questionnaire zum Hyperventilationssyndrom
(englischsprachig): http://www.buteykokent.co.uk/images/The%20Nijmegen%20Questionnaire.pdf
Herrmann, Jörg M.; Radvila, Andreas:
Funktionelle Atemstörungen – Das Hyperventilationssyndrom
Dtsch Arztebl 1999; 96(11): A-694 / B-532 / C-490
Kommentare zu diesem Beitrag: http://www.aerzteblatt.de/archiv/19060
„In der medizinischen Literatur findet sich kein Hinweis dafür, dass das akute Hyperventilationssyndrom zum Tod führen kann. Eine entsprechende Medline-Literaturrecherche (1966 bis 1999) hat keinen einzigen Artikel ergeben, in dem Hyperventilation als Todesursache beschrieben wurde.“
Deutsches Ärzteblatt, Schlusswort von Prof. Dr. med. Jörg Michael Herrmann, Reha-Klinik Glotterbad, Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 38, 24. September 1999 (57) – A 2369
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 22.4.2010
Aktualisiert am 20.12.2024
2 thoughts on “Selbsthilfe bei Hyperventilation”
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Liebe Frau Freimuth,
ich kann mir vorstellen, was Sie mit „Schnappatmung“ meinen. Dieser Begriff bezieht sich genaugenommen aber auf eine bestimmte Atemform kurz vor dem Tod, wenn das Atemzentrum im Hirnstamm gestört ist und nicht mehr zum Atmen anregt. Dann gibt es lange Atempausen und dazwischen immer eine schnappartige Atmung.
Vielen Menschen fällt es leichter, zu weinen, wenn sie ein Gegenüber haben, also wenn sie zum Beispiel einer Freundin Bedrückendes erzählen können. Oft hängen Trauer und Wut eng zusammen und es kann viele weitere gemischte Gefühle geben.
Da kann dann die Atmung durcheinanderkommen. Hyperventilation und Weinen können sich dann mischen. Es entsteht dann unter Umständen diese aufgeregte Atmung, die Sie als „Schnappatmung“ bezeichnen. Auch, wenn das alles sehr dramatisch wirkt und man unter Atemnot leidet, rührt das in der Regel wirklich nur von den Ängsten und dem Ärger her. (Als Ärztin muss ich hier aus rein rechtlichen Gründen natürlich schreiben: Im Zweifel wenden Sie sich an Ihren Arzt ;-)).
Guten Morgen =)
Habe den Beitrag gelesen und finde ihn sehr aufschlussreich.
Trotzdem hab ich eine Frage: Immer, wenn ich anfange zu weinen und es unterdrücke, bekomme ich ganz flott Schnappatmung. Bis jetzt hatte ich das Glück, dass immer wer dabei war und mich beruhigt hat – dann wurde es langsam besser. Kommt sowas wirklich durch Ängste und Ärger?