Die Angst, verrückt zu werden ist die Angst, den Zusammenhang zu verlieren

Das Gefühl, verrückt zu werden, ist sehr unangenehm. Es schwirrt im Kopf. Es ist, als ob sich zwei Energien aneinanderrieben. Es ist eine Mischung aus „Ich will das nicht“ und „So ist es aber.“ Ähnlich, wie Schwindelgefühle von unterschiedlichen Wahrnehmungen herrühren (ich bewege mich körperlich nicht, aber die Umwelt bewegt sich), so können wir das Gefühl, verrückt zu werden, dann bekommen, wenn unsere innere Wahrnehmung mit dem Äußeren nicht übereinstimmt. Wenn wir uns ein anderer, dem wir sehr vertrauen, etwas sagt, was wir selbst aber ganz anders wahrnehmen, kann dieses Gefühl entstehen.

Verrücktsein kann also etwas mit Wahrnehmung zu tun haben, aber auch mit dem Gefühl von Nicht-Zusammenhang, Verwirrung und Verlorensein. Man kann sich selbst verwirren, indem man Gedanken denkt, um die Wahrheit zu verbiegen. Es fehlt dann die Verbindung zur Wahrheit.

Auseinandergenommen

Der Psychoanalytiker Thomas Ogden beschreibt in seinem Buch „Frühe Formen des Erlebens“, wie er ein Wort lange anguckt und dieses Wort dann immer komischer erscheint. Er habe einen Weg gefunden, sich verrückt zu machen: Wenn er ein Wort anblickt, ohne den Zusammenhang zu anderen Worten herzustellen, wird es immer komischer.

Dass die Sonne scheint, muss nicht unbedingt Sinn ergeben. Es ergibt Sinn, wenn es ein Blümchen gibt, das von den Sonnenstrahlen lebt. Zwar müsste es auch beides nicht geben, doch einen Sinnzusammenhang spüren wir, wenn Sonne und Blume aufeinander bezogen sind.

Und so fühlen wir uns im Alleinsein auch manchmal dem Verrücktwerden näher als wenn wir mit anderen in stimmigem Kontakt sind. Um gut kommunizieren zu können, müssen wir uns selbst gut kennen und wir brauchen Menschen, die uns ernst nehmen und die selbst bei der Wahrheit bleiben und ehrlich sind. Die meisten Menschen, die sich vor dem Verrücktwerden fürchten, werden nicht verrückt. Sie spüren jedoch die Nähe zum Verrücktwerden und das kann sehr ängstigen.

Das Verrücktwerde-Gefühl ist oft eine Verzweiflung am eigenen Ich. Wir leiden an unserem Bewusstsein. Zu spüren, dass ich bewusst in meinen engen Körpergrenzen lebe, kann zu dem Drang führen, raus zu wollen, Grenzen aufzubrechen, wegzulaufen, zu schreien und sich aufzulösen. Wenn ich mich bewegen will, aber stehenbleiben muss, werde ich unruhig.

Die Bedeutung wiederfinden

Wenn wir uns selbst gut kennen oder den Fragen nachgehen, die uns interessieren, dann interessieren wir uns auch dafür, wie andere Menschen ähnliche Probleme erleben oder gelöst haben. Der andere bekommt dann für uns eine Bedeutung. Dazu braucht es auch eine Art „Energie“, die der Analytiker „libidinöse Besetzung“ nennt. Erst, wenn ich meinen Körper, meine Gefühle und Gedanken ernstnehmen kann, weil sie mir wichtig sind, fühle ich mich im guten Sinne an die Realität gebunden. Auch das Gefühl, verrückt zu werden, hat seinen Sinn und ist nachvollziehbar.

„Wir wissen nicht, was Matilda hat. Alles, was wir wissen, ist, dass sie aus Angst vor einem angeblich wahllosen Verrücktwerden nicht mehr über die Straße kommt und nicht mehr allein sein kann, weil sie meint, dass Verrücktwerden vor allem auf der Straße, aber ebenso gut in der Wohnung in sie hineinrennen kann. ‚Verrücktsein ist aber nie wahllos‘, sagt Sylvester, und dass Matildas Angst vor Straße bestimmt irgendwas mit einem früheren Leben zu tun habe.“ Mariana Leky: Erste Hilfe. Dumont-Verlag 2018, S. 62).

Wenn wir auf Ursachensuche gehen und eine echte und ehrliche Beziehung zu uns selbst und zu unserer Umwelt herstellen können, geht es uns besser. Bei schweren psychischen Störungen kann man das aus meiner Sicht am besten in einer Psychoanalyse lernen, weil es eine intensive Beziehung zum Analytiker gibt, die diese „libidinöse Besetzungsenergie“ in uns erwecken kann.

Die Angst, verrückt zu werden, spüren wir vielleicht vornehmlich in unserem Kopf. Unser Körper ist relativ frei davon. Manchmal jedoch kann es zu Darmbeschwerden und Übelkeit kommen. Bei Psychosen ist der Körper zumeist extrem beteiligt – es kann zu Starre, zu Überaktivität, zu hohem Blutdruck oder gar Fieber kommen.

Besonders, wenn wir etwas „nicht fassen“ und „nicht begreifen“ können, wenn wir zum Beispiel vom Tod eines nahestehenden Menschen erfahren, greifen wir uns an den Kopf und haben Angst, verrückt zu werden. Aber auch bei Lügen oder bei neuen Sichtweisen fragen wir uns: Was ist nun wahr? Wir verlieren die innere Sicherheit und „verrutschen“. Das Wissen, das uns vorher Sicherheit gab, ist ins Wanken geraten. Wenn uns jemand, dem wir wirklich vertrauen, etwas über uns sagt, was uns als überhaupt nicht stimmig erscheint, kann uns das nahe an das Gefühl des Verrücktwerdens bringen – das Vertrauen in den anderen und seine „Fehlwahrnehmung“ oder „Lüge“ sind eine Diskrepanz die in uns ein Verrücktwerdegefühl hervorruft.

Der Alltag mit seinen vielen Grenzen, Anregungen und Ablenkungen kann helfen, dass sich die Angst vor dem Verrücktwerden wieder verringert.

Wenn unser Auto einen Platten hat, sind wir beschäftigt: Wir haben ein Mini-Projekt und das Ziel, Hilfe für unser Auto zu finden und wieder fahren zu können. Wenn wir Traditionen pflegen, kann uns das sehr gut tun. Auch regelmäßiges Lernen, Bewegung und Arbeiten können gute Helfer gegen die Angst, verrückt zu werden, sein.

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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 9.12.2022
Aktualisiert am 26.7.2023

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