Schnell wechselnde Fratzen beim Einschlafen können Angst machen

Im Dämmerzustand kurz vor dem Einschlafen haben wir vielleicht rasend schnelle Bilder, die alle ineinander übergehen. Häufig sehen wir Gesichter, ja „Fratzen“. Sie schweben und sind ohne Boden – kein Wunder, denn wenn wir ins Dunkle schauen vor die geschlossenen Lider, ist da auch kein Boden zu sehen. Die Fratzen, bei denen der Phantasie keine Grenzen gesetzt sind, können Angst machen. Wir öffnen die Augen, um den Spuk zu beenden. Der Germanistikprofessor Helmut Pfotenhauer und und die Literaturprofessorin Sabine Schneider haben sich mit diesem Thema befasst. Sie schrieben das Buch „Nicht völlig Wachen und nicht ganz ein Traum: die Halbschlafbilder in der Literatur“ (Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2006).

Die Autoren schreiben darüber, wie sich der Romantik-Begründer Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773-1798) und sein Schriftsteller-Freund Johann Ludwig Tieck (1773-1853) über das Thema „Einschlafen“ austauschten. Über das Kapitel „Zur Poetik und Poesie der Halbschlafbilder bei Tieck und Hoffmann“ setzen sie ein Zitat aus einem Briefwechsel zwischen den beiden Romantikern, in dem das Einfallen der Traumbilder beim Einschlafen als „Delirieren“ bezeichnet wird: „Jenes Delirieren, das dem Einschlafen vorherzugehen pflegt“.

„Als schwämme ich auf einem Strom“

Johann Tieck hatte den Roman von Carl Grosse (deutsche-biografie.de), „Der Genius“ (Projekt Gutenberg), gelesen und danach eindrückliche Bilder beim Einschlafen gehabt. Helmut Pfotenhauer und Sabine Schneider zitieren Tieck:

„Sobald ich die Augen zumachte, war mir, als schwämme ich auf einem Strom, als löste sich mein Kopf ab.“ Und weiter: „Alle seine Glieder seien ihm selbst fremd geworden. Sein Freund Schmohl wird ihm zum fürchterlichen Ungeheuer. Tieck äußert gegenüber Wackenroder seine Furcht, in solchen Augenblicken wahnsinnig zu werden.“ … „Grosses Roman handelt von solchen Zwischenzuständen des Halbschlafs, in denen, noch bevor der eigentliche Traum beginnt, das Ich sich verliert und ihm wechselnde Bilder vor das innere Auge treten – entzückend oder ängstigend, in jedem Falle aber von nachgerade umwerfender Intensität.“ Alle Bilder seien auf einmal aufgetreten und der Verstand sei außer Kraft gesetzt worden.

Auch die Bilder von Malern wie Paul Weber (1823-1916, Webermuseum.de) oder Hieronymus Bosch (1450-1516, Staedelmuseum.de) zeigen erstaunliche und verwirrende „Durcheinander-Szenen“, wie sie beim Einschlafen auftauchen können. Die „Wimmelbilder“ von Ali Mitgutsch (Galerie Gabriele Müller) erscheinen durch ihre Konkretheit dagegen harmlos, erinnern aber durch die Assoziationen ebenfalls an wechselnde Einschlafbilder.

Die Lichterscheinungen, die man nach dem Schließen der Augenlider im dunklen Raum beim Einschlafen sieht, sind optische Wahrnehmungen, die durch die geschlossenen Lider und die umgebenden Licht- und Dunkelreize entstehen (Entopsien). Meistens sind es wolkenförmige, weiße, graue und dunkle Kreise, Linien und „Wolken“ auf dunklem Untergrund (siehe Wolfgang Leuschner: Einschlafen und Traumbildung. Brandes&Apsel 2011, S. 48).

Der Psychoanalytiker Wolfgang Leuschner (Stiftung-medico.de) unterscheidet fünf Typen von visuellen Einschlaferlebnissen. Zu Typ III zählt er das Sehen von Fratzen und Gesichtern: „In der sich vertiefenden Einschlafregression treten dann – zunächst oft nur statische und fragmentartige – immer noch schattenhafte Objektbilder, zuerst Gesichter und Fratzen, dann menschliche Gestalten oder Dinge vor unser Auge; sie bleiben in ein Grau eingebettet, sind ‚ohne klare Farbe‘. Sie sind ohne Basis, stehen auf keinem festen Boden.“ (S. 49)

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Literatur:

Wolfgang Leuschner (2011):
Einschlafen und Traumbildung
Psychoanalytische Studie zur Struktur
Und Funktion des Ichs und des Körperbildes im Schlaf
Brandes & Apsel, 2011, Sigmund-Freud-Buchhandlung

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 25.6.2020
Aktualisiert am 26.11.2023

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