„Berühr‘ mich nicht!“ Wie das Trauma der Mutter zur „Dummheit“ des Kindes führen kann
Vor dem Kind steht die traumatisierte Mutter. Das Kind weiß nicht, was das heißt. Es weiß nur: Es darf die Mutter nicht berühren. Nicht mit Worten, nicht mit Gefühlen, nicht mit Erinnerungen. Das Kind, es plappert den ganzen Tag, doch es spricht nicht. Sprechen heißt, Worte mit Bedeutung zu versehen. Sprechen heißt, beim anderen anzukommen und Antwort zu erhalten. Doch die schwer traumatisierte Mutter weicht aus. Sie will das nicht. Emotionale Berührung ist undenkbar für sie. Doch das Kind kann später in neuen Beziehungen nachlernen.
Das Kind vermeidet, Worte zu benutzen, die in Mutters Welt gehören. Es umgeht diese Worte wie die Autos im Straßenverkehr die Baustelle. So kommt es, dass sich das Kind bestimmte Worte nicht merken kann. Es will nichts wissen, um sich und die Mutter vor heiklen Themen zu schützen. Es kann sich keine Namen merken und keine Begriffe aus Mutters Welt.
In der Schule ist das Kind schlecht in Geografie und Geschichte, es meidet Politik. Es wird auf gewisse Weise in Dummheit groß. Als es erwachsen ist, bemerkt das Kind, dass ihm das Sprechen schwer fällt. Schreiben geht. Sprechen vor einer Gruppe geht. Nur eines geht nicht: das Gespräch zu zweit.
Die anderen wundern sich
„Du sagst mir nicht die Wahrheit!“, erbost sich der andere. „Du veräppelst mich doch, Du lügst mich an, Du verschweigst mir doch was!“, hört es. Das Kind, es weiß nicht, was gemeint ist. Es merkt nur: Sprechen zu zweit fällt ihm sehr, sehr schwer. Bei anderen, da ist irgendwas anders. Sie können sagen, was sie fühlen. Sie bekommen Antworten. Ruhige Antworten, keine aufgebrachten. Natürliche Antworten.
Andere können mit anderen ihr Wissen teilen und Problematisches besprechen. Sie können sich zeigen, mit anderen verhandeln, mit anderen in den Dialog gehen.
Das alles kann das Kind nicht. Es führt Innengespräche. Außengespräche sind so anstrengend, dass es schon müde wird, wenn es nur daran denkt. Doch auch im Inneren hat es gelernt, die Dinge zu vermeiden, die zur Berührung führen würden. So sind auch die inneren Dialoge verarmt. Das Kind muss nun mühselig sprechen lernen. Es muss lernen, laut zu denken mithilfe der Sprache, die langsam weiter wird und so wiederum zu einem weiteren Denken führt.
Kinder, die ihre traumatisierten Mütter schonen wollten, entwickeln manchmal fast unbemerkt eine Kommunikationsstörung. Sie stellen sich oft „dumm“, denn es ist, als sei die Wahrheit auch für sie nicht zu ertragen. Sie setzen „Nicht-Wissen“ als Abwehr ein. So fühlen sie sich geschützt. Doch das kann in die Einsamkeit führen. Allein das Wissen darum kann schon helfen. Neue Beziehungserfahrungen und selbst noch eine Psychoanalyse im Erwachsenenalter kann zu immensen Entwicklungen führen, sodass ein „normales“ Leben mit gesunder Kommunikation möglich wird.
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Link:
Dr. Beatrice Beebe:
Decoding Mother-Infant Interaction:
Story of One Mother and Infant
https://youtu.be/-60yYJvztJ8
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 3.3.2020
Aktualisiert am 21.5.2023
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