OPD-Achse IV: Das Strukturniveau sagt etwas über die Beziehungsfähigkeit aus
Mithilfe der 4. Achse des Systems „Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik“ (OPD) schätzt der Psychotherapeut ein, wie „strukturiert“ ein Patient ist, also wie gut er sich selbst und seine Beziehungen (die Beziehungsstruktur) regulieren kann. Das Strukturniveau beschreibt die Fähigkeit zur „Regulierung des Selbst und der Beziehung zu inneren und äußeren Objekten“. Siehe: Reiner W. Dahlbender und Karin Tritt, Einführung in die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD), Psychotherapie 2011, Bd. 16, Heft 1 (PDF).
Am leichtesten lassen sich die Einteilungen vielleicht merken, wenn Du versuchst, Dich selbst einmal einzuordnen. Es wird vielleicht Tage geben, an denen Du vieles hiervon bei Dir selbst feststellst – bekomm‘ keinen Schrecken und fühl‘ Dich nicht gleich „krank“. Theoretische Einteilungen der Psyche sind meistens problematisch.
1. Bei einem „gut integrierten Strukturniveau“ hast Du ein autononomes Selbst und einen strukturierten psychischen Innenraum (was sich auch darin widerspiegelt, wie Du etwas erzählst). Du kannst die Realität gut wahrnehmen, Dich selbst gut steuern und bist empathiefähig. Du kannst Deine Konflikte innerlich bearbeiten, bist selbstreflexiv und hast Angst, die Zuneigung Deiner Liebsten (Deiner nächsten Objekte) zu verlieren.
2. Bei einem mäßig integrierten Strukturniveau leidest Du unter inneren Spannungen und Konflikten, die Du auf destruktive Weise lösen willst. Du entwertest Dich selbst und neigst vielleicht dazu, Dich selbst zu schädigen. Du hast Schwierigkeiten, Deine Identität zu finden und zeigst vielleicht nur selten Empathie für andere (möglicherweise, weil Du selbst zu sehr leidest und niemand das wahrnimmt und Dir hilft). Du hast möglicherweise vorwiegend Zweier-Beziehungen, weniger Beziehungen in der Gruppe. Deine zentrale Angst ist es vielleicht, Deine Dir am nächsten stehenden Menschen zu verlieren (also nicht nur die Zuneigung zu verlieren, sondern die Personen als Ganzes).
3. Bei einem gering integrierten Strukturniveau konnte sich Dein „psychischer Innenraum“ nicht weit entwickeln. (Man könnte auch sagen: Dein Denkraum ist klein und Du musst immer gleich handeln. Du kannst Deine Gefühle schlecht aushalten.) Du kannst wenig differenzieren und teilst Deine Welt rasch in „gut und böse“ ein. Du versuchst, Deine Konflikte rasch durch Streit zu lösen, anstatt Dir Zeit zum Nachdenken zu geben. Du kannst kaum selbstreflektieren, also Du weißt nicht so recht, was mit Dir los ist, was Du fühlst und warum Du so fühlst. Du fühlst Dich manchmal ganz und gar „so“ und manchmal komplett anders – so, als gehörte nicht beides zu Dir. Das nennt man „Identitätsdiffusion“. Ungute Gefühle kannst Du kaum tolerieren (vielleicht, weil Du schon viel Schlimmes erlebt hast und dabei meistens allein gelassen wurdest). Du fühlst Dich leicht gekränkt und Deine Impulse brechen leicht durch, sodass Du rasch laut und gewalttätig wirst. Du entwertest Dich selbst, aber leicht auch andere. Es fällt Dir schwer, Dich mit Worten auszudrücken, Worte für Dein Befinden zu finden und mit anderen über Deine Gefühle zu sprechen. Deine „inneren Objekte“ (also die inneren Bilder, die Du von Deinen Eltern, Lehrern etc. hast) verfolgen und strafen Dich. Deine zentrale Angst besteht vielleicht darin, dass Deine inneren „bösen“ Kräfte so stark werden könnten, dass Sie Dein Selbst zerstören (das zeigt möglicherweise, dass die Menschen in der äußeren Welt oft übermächtig und böse mit Dir waren). Du befürchtest, dass Du den Menschen, der Dir am meisten bedeutet, verlierst (was mitunter eine „normale“ menschliche Angst ist, aber bei Dir ist sie vielleicht sehr groß, weil der andere Dir vielleicht z.B. im Streit rasch droht, Dich zu verlassen).
4. Bei einem desintegrierten Strukturniveau bemerkst Du Dein inneres Chaos. Dein Selbst ist nicht „kohärent“, das heißt, Du fühlst Dich unberechenbar und bist jeden Tag wie ein anderer Mensch. Deine Emotionen sind so stark, dass Sie dich ganz einnehmen. Sie scheinen stärker als Dein Wille zu sein. Du versuchst, Gefühle und Probleme abzuwehren, indem Du Deine Welt z.B. in gut und böse einteilst (Spaltung) oder Deine Gefühle nicht mehr wahrnimmst und sie stattdessen in anderen siehst (Projektion). Du kannst kaum zwischen „Selbst- und Objektbildern“ trennen, das heißt z.B. dass Du kaum weißt, was Du selbst willst und was der andere will. Es fällt Dir extrem schwer, Eigenverantwortung zu übernehmen, also zu bemerken, dass Dein Handeln Folgen hat und dass Du Dinge auslösen kannst. Es ist Dir kaum möglich, Dich in andere hineinzuversetzen, das heißt, Du scheinst kaum Empathie zu haben. Du handelst oft impulsiv (und leidest möglicherweise selbst darunter). Du kannst Dich kaum selbst als Verursacher von Schaden oder Verletzungen erleben (vielleicht, weil Du versteckt sehr große Schuldgefühle hast oder weil Dir Deine eigenen schlechten Seiten Angst machen). Deine zentrale Angst besteht darin, dass die Vorstellungen von Dir selbst mit den Vorstellungen von anderen verschmelzen und Du dann nicht mehr weißt, wer Du selbst bist (Angst vor Selbstverlust).
Wir funktionieren nicht immer nur auf einem Strukturniveau. Wenn wir an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden, können wir psychische Räume haben, in denen wir „desintegriert“ sind. In stressigen Situationen sind wir vielleicht „niedriger“ strukturiert als in Lebensphasen, in denen die Dinge überwiegend gut und ruhig verlaufen.
Die OPD beschreibt (Beziehungs-)“Struktur“ in vier Dimensionen:
- Selbstwahrnehmung und Objektwahrnehmung (hier spielt die Art der „Übertragung“ mit hinein)
- Steuerung des Selbst und der Beziehungen (Wie gut kann Spannung ausgehalten werden?)
- Emotionale Kommunikation nach innen und außen (Greife ich mich selbst und andere wütend an? Kann ich mich selbst mitfühlend behandeln?)
- Innere Bindung und äußere Beziehung (Wie gut kann ich meine guten inneren Objekte zur Selbstregulierung und Beruhigung nutzen, z.B. indem ich in Krisen liebevoll mit mir spreche? Wie gut kann ich mich an andere binden, ohne das Gefühl zu haben, verschlungen zu werden? Wie gut kann ich meine Bindungen halten und was passiert bei Trennungen?)
Hier noch einmal zum Lernen aus dem Lehrbuch „Praxis der Psychotherapie“, Thieme 2020, Klassifikation psychischer Störungen und Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik, Reiner W. Dahlbender, S. 337:
„Die vier Fähigkeitsdimensionen mit drei Subdimensionen für Subjekt und Objekt:
Selbstwahrnehmung (Selbstreflexion, Affektdifferenzierung, Identität) – Objektwahrnehmung (Selbst-Objekt-Differenzierung, ganzheitliche Objektwahrnehmung, realistische Objektwahrnehmung)
Selbststeuerung (Impulssteuereung, Affekttoleranz, Selbstwertregulierung) – Objektsteuerung (Beziehung schützen, Interessenausgleich, Antizipation)
Emotionale Kommunikation nach innen (Affekte erleben, Fantasien nutzen, Körperselbst) – Emotionale Kommunikation nach außen (Kontaktaufnahme, Affektmitteilung, Empathie)
Bindung an innere Objekte (Internalisierung, Introjekte nutzen, variable Bindungen) – Bindung an äußere Objekte (Bindungsfähigkeit, Heilfe annehmen, Bindung lösen)“
Verwandte Artikel in diesem Blog:
- OPD-Achse I: Behandlungsvoraussetzungen und Krankheitsverarbeitung
- OPD-Achse II: Beziehungsgestaltung
- OPD-Achse III: Konfliktachse
- OPD-Achse V: Psychische und psychosomatische Störungen
- Strukturniveau
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht 2016.
Aktualisiert am 3.1.2024
2 thoughts on “OPD-Achse IV: Das Strukturniveau sagt etwas über die Beziehungsfähigkeit aus”
Schreibe einen Kommentar
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.
Liebe Melande,
der Begriff „Struktur“ wird in der Tat sehr unterschiedlich verwendet.
Die äußere Struktur (z.B. Tagesstruktur, Zeitpläne) kann die „innere Struktur“ stärken. Oft geht es den Patienten daher wieder schlecht nach dem Verlassen der Klinik, weil sie die Struktur der Klinik nicht ausreichend verinnerlichen konnten.
Auch ist die Unterscheidung der Begriffe „Struktur, Rahmen und Setting“ nicht immer leicht (siehe: „Den Rahmen halten“ https://www.medizin-im-text.de/2018/56903/77-wie-wird-man-psychoanalytikerin-den-rahmen-halten/).
In der Psychoanalyse verinnerlicht der Patient sozusagen die reifere Struktur des Analytikers, die er in der Analyse erlebt. Der Patient stärkt zudem seine eigenen Strukturen, indem er psychische Aspekte von sich selbst „integriert“, die vorher abgespalten (verdrängt) waren (also er akzeptiert z.B. die Aggressionen in sich oder schmerzhafte Erinnerungen).
Herzlich,
Dunja Voos
Danke für diesen Beitrag!!!
Eine Frage:
Im Kontext von Einrichtungen (Krankenhäuser, Reha-Kliniken, Wohn-Heime, therap. WG`s, Tagesstätten, usw.) ist immer von dem Fehlen von Struktur der Patienten/Bewohner/Gäste die Rede. Dem wird seitens der therap. Leitung begegnet, indem z.B. ein streng-einzuhaltender „Rahmen“ (Regeln, Termine einhalten müssen, usw.) gesetzt wird.
Ob die Verantwortlichen da wohl ÄUßERE STRUKTUREN (der Einrichtung) und INNERES STRUKTURNIVEAU (der die Einrichtung in Anspruch Nehmenden) vermischen?
Mit einem lieben Gruß von
Melande