Ernstnehmen hilft gegen Unterwürfigkeit
Wir halten nur wenig von unserem Vorgesetzten und müssen trotzdem tun, was er sagt. Wir lernen in Schule, Studium und Ausbildung unzählige sinnlose Dinge. Wir müssen etwas auf eine bestimmte Art durchführen, obwohl wir wissen, dass es bessere Wege gibt. Wir rebellieren innerlich, aber wir arbeiten die Dinge stillschweigend ab, weil uns scheinbar nichts anderes übrig bleibt, wenn wir Frieden haben wollen. Manchmal aber brechen Rachsucht und Rebellion durch und wir verletzen die anderen zutiefst.
Nach einer Weile bereuen wir unseren Ausbruch. Wir merken, wie wir gemieden werden. Wir wollen wieder dazugehören und geben uns unterwürfig. Doch Unterwürfigkeit und Gehorsam sind nur die andere Seite der Medaille namens „Rebellion“. Wie finden wir aus der Spirale von Gehorsam und Aufruhr heraus? Ganz schwierig: durch Erstnehmen.
Ernstnehmen
Wenn ich mich selbst ernst nehme und den Kontakt zu meinem Innersten halte, dann sind mir meine Bedürfnisse und Belange wichtig. Ich kann mit anderen darüber sprechen. Mit dem Ernstnehmen können wir bei uns selbst anfangen. Nicht mehr gegen uns selbst anreden, nicht mehr uns selbst übergehen – das sind erste wichtige Schritte auf dem Weg. Wenn ich den anderen ernst nehme, dann erkenne ich auch seine Bedürfnisse und seine Verletzlichkeit – ebenso aber auch seine Fähigkeiten. Er mag auf einer anderen Stufe stehen, gefühlt über oder unter mir, aber auch er kennt Angst, Wut, Verzweifeltsein, Leersein.
Manchmal verletze ich andere, manchmal verletzen andere mich – es lässt sich nicht verhindern. Wir können nur achtsam versuchen, den Schaden so klein wie möglich zu halten.
Manchmal werden meine Bedürfnisse erfüllt, manchmal muss ich verzichten. Dem anderen geht es ähnlich, auch wenn wir es in unserem Schmerz, in unserem Neid kaum sehen können. Sind wir schwer verletzt, sind uns die Schmerzen der anderen egal. Manchmal machen wir dem anderen etwas vor, doch wenn er auf das Unechte reagiert, das wir ihm zeigen, dann bleiben wir einsam. Außerdem sind wir verwirrt. Wenn wir den Mut finden, uns ernst und ehrlich zu zeigen, können wir mit anderen in einen ehrlichen Kontakt treten.
Ernstnehmen führt zu guten Begegnungen
Das Telefon reißt mich aus dem Mittagsschlaf. Ich war erschöpft. Ich greife zum Hörer und merke durch die Hintergrundgeräusche sofort: Es ist ein Call-Center. Normalerweise zeige ich mich unfreundlich und sage dem Anrufer, er soll mich sofort aus der Adressdatei streichen. Doch diesmal ist es anders. Ich höre dem Mann zu, höre seine Stimme, höre, wie gestresst er ist. Er spricht in gebrochenem Deutsch. Ich glaube, dass er sicher viele Fähigkeiten hat, aber aus irgendeinem Grund diesen Job jetzt tun muss. Ich höre, dass er vielleicht ebenso erschöpft ist wie ich es gerade bin. Mit dieser Haltung bitte ich ihn, meine Adresse aus der Datenbank zu löschen. Er antwortet mit einer wohlklingenden Stimme, dass er das gerne tut. Es ist ein kurzer Moment der Begegnung. Er hat begriffen, dass ich das Ganze sehe und dass ich ihn als Menschen ernst nehmen kann. Ich kann die Resonanz spüren. Zufrieden lege ich auf.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 29.8.2017
Aktualisiert am 16.5.2023