Es kann niemand etwas dafür
Aufgewachsen in Geschrei, Gewalt und Todesangst. Aufgewacht in dieser kalten Welt. Auf einmal sickert Dir ins Bewusstsein: „Du bist ganz allein.“ Allein wie eine Aussätzige. Wie hinter einer Glasscheibe bewegen sich die anderen – als Paare, Familien, Geschwister, als Kinder und Eltern. Lachend und gemeinsam. Schmerzvermeidung tut weh. Du selbst bleibst unberührt. Du berührst niemanden. Und dann diese Stiche! Unaushaltbare Schmerzen. Die anderen, die haben das, was Dir fehlt: Sie haben täglich Berührung. Sie wollen auch Dich berühren, aber Du sträubst Dich, denn der Schmerz, dass sie wieder gehen, ist zu groß. Du wirst alleine nach Hause gehen.
Du fängst an, die anderen zu hassen, weil Du sie liebst, aber nur für Momente zu ihnen gehörst. Du stellst Dich kalt, stellst Dein Prickeln ab, um nie in Versuchung zu kommen. Man wird ungerecht, stellt die Stacheln auf.
Abgeschlossen
Und eines Tages stellst Du fest: Es kann niemand etwas dafür.
Es waren Schicksale und Fügungen. Schreckliche Schicksale und schreckliche Fügungen. Du kannst Dein Herz wieder aufmachen für die anderen. Denn sie wissen nicht, was sie tun. Und haben. Unzähligen geht es wie Dir. Und auch Du tust anderen weh. Ohne es zu wollen. Du hörst auf, den anderen die Schuld zu geben und wirst wieder weich. Schultern und Herz werden leicht. Du kannst Dich wieder öffnen. Der Neid war nichts anderes als eine große Schuldzuweisung. Das ganze schwere Gewicht kam überhaupt nur von der Schuldzuweisung. Du kannst Dein Schicksal annehmen. Du kannst Wege finden. Du bist nicht länger ausgeschlossen, weil Du niemandem mehr die Schuld gibst.
Verwandte Artikel in diesem Blog:
Dieser Beitrag erschien erstmals am 19.9.2016
Aktualisiert am 30.10.2023
3 thoughts on “Es kann niemand etwas dafür”
Schreibe einen Kommentar
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.
Liebe NinaHuba,
welch wahre Worte …
Mir wurde kürzlich dieses Buch empfohlen: „Was ich begehre, ist in mir“ von Jeannette Fischer:
https://jeannettefischer.ch/de/narzissmus/
Das soll ganz anders sein.
Viele Grüße,
Dunja Voos
Liebe Frau Dr. Voos,
passend zum Thema Schuldzuweisung fällt mir auf, dass von Zeit zu Zeit eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird. Neuerdings ist es die narzisstische Persönlichkeitsstörung. Kinder wollen diese Störung bei ihren Eltern, Mitarbeiter bei ihren Chefs etc. diagnostiziert haben. Auf YouTube und Co. geben Startherapeuten Tipps, woran man „Narzissmus“ erkenne und wie man Narzissten in ihre Schranken weise. Vor Jahren gab es dieselbe Spielart mit der Borderline-Störung, denke ich.
In der WDR-Doku „Der Vater, der seine Familie auslöschte“ ist mir das leider wieder aufgefallen, dass dem Täter von der interviewten Gutachterin posthum die N-PS verpasst wurde. Der Tenor ist klar: das irrationale, selbstsüchtige Monster. Die Kindheit wird nur von dem Täter selbst kurz erwähnt, aber aus seinem Wort klingt das eher nach einer Schutzbehauptung. Nichts darüber, was die große Selbstverachtung bedeutet und auch nichts darüber, was die trotz der monströsen Tat unübersehbare Liebe zu seiner Familie für Ressourcen geboten hätten in einer Therapie.
Wenn in aller Öffentlichkeit vermeintliche Experten so über psychische Krankheiten aufklären, darf man sich echt über nichts mehr wundern. Nein, man muss sich wirklich fürchten.
Ja, ich weiß – die Verursacher konnten nicht anders – aber das hilft auch nicht wirklich…