Somatoforme Störung (Somatisierungsstörung): Wenn die Spannung zu groß wird

Die Magenspiegelung ist unauffällig – trotzdem schmerzt der Magen und Übelkeit quält. Lassen sich auch in anderen Untersuchungen keine körperlichen Diagnosen festmachen, vermuten Ärzte häufig eine „Somatisierungsstörung“ (= Somatoforme Störung). Vereinfacht gesagt zeigen sich dann die Lebensprobleme im Körper. Früher sprach man auch von „vegetativer Dystonie“. Das Vegetativum ist die Sammelbezeichnung für die Organsysteme, die vom autonomen Nervensystem (Sympathikus und Parasympathikus) versorgt werden. Das autonome Nervensystem macht quasi, was es will. Wir haben nur bedingt Einfluss darauf, z.B. durch Yoga und Meditation.

Unwillkürlich gesteuert werden beispielsweise die Eng- oder Weitstellung der Blutgefäße, die Bewegungen des Verdauungssystems oder die Funktion des Nieren-Blasen-Systems. Wenn diese Systeme „dyston“ sind, dann sind sie zu deutsch in einer „falschen Spannung“. Wenn sowohl Körper als auch Psyche in einer geschwächten Lage sind, spricht man auch von „Neurasthenie“, also „Schwäche des Nervensystems“.

Wichtige Diagnosen nach ICD-10:
F45 Somatoforme Störungen

F45.0 Somatisierungsstörung
F45.2 Hypochondrische Störung
F45.3 Somatoforme autonome Funktionsstörung
F45.4 Anhaltende Schmerzstörung
F45.8 Sonstige somatoforme Störungen (nicht vom vegetativen Nervensystem verursacht, z.B. steifer Nacken, Zähneknirschen, Juckreiz)

Die Organe bleiben zunächst unbeschadet

Obwohl die somatoforme Störung sich oft als chronisches Nicht-Wohlfühlen, als Schmerz, Schwindel, Atemnot oder Übelkeit äußert, sind die betroffenen Organe meistens nicht geschädigt. Beeinträchtigt ist lediglich deren Funktion. Daher wird die somatoforme Störung auch als „funktionelle Störung“ bezeichnet.

Ist eine echte Schädigung vorhanden, wie z.B. bei einem Magengeschwür, dann spricht man von einer „psychosomatischen“ Erkrankung. Viele sehen das Magengeschwür seit Entdeckung des Bakteriums „Helicobacter pylori“ nicht länger als psychosomatische Erkrankung an. Tatsächlich ist es aber ein Zusammenspiel: Der nervöse Magen ist im Vergleich zum ruhigen Magen anfälliger dafür, dass ihn das Bakterium krank machen kann. Hier sprechen Psychosomatiker auch vom „Open-Window-Phänomen“.

Verwandte Beiträge in diesem Blog:

Links:

Barry R. Komisaruk and Beverly Whipple (1998):
Love as sensory stimulation: Physiological consequences of its deprivation and expression.
Psychoneuroendocrinology, Volume 23, Issue 8, November 1998, Pages 927-944
https://doi.org/10.1016/S0306-4530(98)00062-6 https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0306453098000626

Melmed RN, Gelpin Y (1996):
Duodenal ulcer: the helicobacterization of a psychosomatic disease?
Israel Journal of Medical Sciences 1996, 32(3-4):211-216
https://europepmc.org/article/MED/8606137

Jos A. Bosch et al. (2000):
Salivary MUC5B-Mediated Adherence (Ex Vivo) of Helicobacter pylori During Acute Stress
Psychosomatic Medicine January 1, 2000 vol. 62 no. 1 40-49
http://www.psychosomaticmedicine.org/content/62/1/40.short

Bianca Andreica-Sandica et al. (2011):
The Association Between Helicobacter Pylori Chronic
Gastritis, Psychological Trauma and Somatization Disorder.

A Case Report. J Gastrointestin Liver Dis, September 2011 Vol. 20 No 3, 311-313
www.jgld.ro/2011/3/16.pdf

Leitlinie „Funktionelle Körperbeschwerden“
(ehemals Leitlinie „Somatoforme Störung“)
Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften (AWMF),
Registernummer 051 – 001

Ulrich Tiber Egle et al. (2000):
Die somatoforme Schmerzstörung
Deutsches Ärzteblatt 2000; 97: A-1469–1473
[Heft 21]

Elisabeth Waller
Somatoforme Störungen und Bindungstheorie
Verlag Dr. Kovac

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 22.1.2013
Aktualisiert am 2.7.2023

2 thoughts on “Somatoforme Störung (Somatisierungsstörung): Wenn die Spannung zu groß wird

  1. Dunja Voos sagt:

    Lieber Herr Wilkat,

    bei Ihrer Frage nach dem neuroanatomischen Ort der „Übersetzung“ vom Seelischen ins Körperliche fällt mir dieser Beitrag ein:

    Gabriella Hunziker:
    Neurowissenschaft: Begrenztheit der Hirnforschung
    (Rezension des Buches von Felix Hasler:
    „Neuromythologie – eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung.“ Transcript-Verlag)
    Dtsch Arztebl 2013; 110(3): A-84
    http://www.aerzteblatt.de/archiv/134048/Neurowissenschaft-Begrenztheit-der-Hirnforschung

    Ich glaube, die Neuroanatomie wird diese Frage wahrscheinlich nicht beantworten können.

    Die „gute alte fiebrige Erkältung ohne psychischen Background“ gibt’s heute tatsächlich kaum noch. Denn jede körperliche Erkrankung hat auch eine psychische Komponente – so wie umgekehrt auch: psychische Probleme machen sich auch körperlich bemerkbar. Man kann es nicht trennen, aber die Zusammenhänge lassen sich oft gut verstehen.

  2. Robby Wilkat sagt:

    Zitat: ‚Wann immer die Seele ihre Probleme in den Körper “übersetzt”…‘
    Mich würde zunächst interessieren, wo man denn die Schnittstelle zur Übersetzung aus neuroanatomischer Sicht lokalisiert. Da käme doch wahrscheinlich der Hypothalamus in Frage.

    Weiterhin: Wenn man von einer Kausalität zischen psychischem Problem und körperlicher Manifestation ausgeht,dann könnte man doch jede (körperliche) Krankheit als Ausdruck einer psychischen (Miss-) Befindlichkeit oder eines psychischen Problems interpretieren.

    Wo zieht ein Therapeut hier die Grenze bzw (in ironisch-flapsigem Ton nachgefragt): Gibts die eigentlich noch, die gute alte fiebrige Erkältung,(ohne psychischen background)? :-)

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