Buchtipp: „Wenn Kinder den Kontakt abbrechen“

„Ich frage mich auch, ob Kinder, die ihre Eltern verlassen, sich selbst letztendlich wirklich gut fühlen? Ob sie meinen, richtig gehandelt zu haben? Wenn ich eine Aktion starte und feststelle, dass sie ein Stück in die falsche Richtung geht, dann versuche ich, mich zu korrigieren. Wird Maya das auch so sehen?“ Das schreibt die Autorin Angelika Kindt in ihrem Buch „Wenn Kinder den Kontakt abbrechen“ (2015, penguin.de, S. 60). Sie erzählt, wie ihre Tochter Maya den Kontakt abbrach und wie es ihr als Mutter damit geht. Das Ringen von Eltern, deren Kinder den Kontakt abgebrochen haben, beginnt oft jeden Tag von vorne.

In der wichtigen Frage des Kontaktabbruchs kommt man nur weiter, wenn ein wesentlicher Aspekt berücksichtigt wird, der in diesem Buch fast vergessen wurde: nämlich das Unbewusste. Wenn das Unbewusste nicht in die Überlegungen mit einbezogen wird, dann fehlen am Ende ein entscheidende Puzzlestücke.

Angelika Kindt schreibt selbst, dass sie in ihrer Therapie das Bedürfnis hatte, von der Vergangenheit zu sprechen, aber vom Therapeuten zum Hier und Jetzt gelenkt wurde. Die Autorin möchte vorwärts schauen. Doch das Vorwärtsschauen ist meistens nur dann möglich, wenn die unbewussten Vorgänge der Vergangenheit berücksichtigt werden. Ich denke, dass viele traumatische Ereignisse in frühester Zeit schon den Grundstein für eine spätere mögliche Trennung gelegt haben. Viele Kinder haben zum Beispiel in den ersten Lebenswochen eine traumatische Trennung von ihrer Mutter erfahren, z.B. durch eine Krankenhausbehandlung. Manche wurde als Kleinkind von der Mutter mit der Vojtatherapie behandelt. Nicht wenige erfuhren auch Gewalt und fühlen sich im Erwachsenenalter unverstanden.

„Meine Eltern haben sich nie bei mir entschuldigt. Sie haben nie verstanden, was sie mir angetan haben. Daher musste ich den Kontakt abbrechen.“ Diese riesige Enttäuschung ist schwer zu verkraften – doch die Eltern können nicht so verstehen, wie die Kinder es sich wünschen. Und die Kinder können die Eltern nicht verstehen. Das ist oft nicht aufzulösen.

Unbewusste Aspekte

Wohl die meisten Kinder, die ihre Eltern verlassen, fühlen sich damit nicht wohl. Zwar spüren viele eine große Erleichterung – manchmal sogar eine Gesundung, aber oftmals ist auch eine zeitweise große Qual dabei. Manchmal müssen die Kinder ihre Eltern vielleicht verlassen, um sich selbst eine Chance zur Weiterentwicklung zu geben. Es gibt auch Eltern mit Persönlichkeitsstörungen – nicht selten können Kinder erst als Erwachsene wirklich erkennen und benennen, dass ihre Mutter oder ihr Vater eine schwere psychische Störung hatten. Viele Kinder haben den Schritt zum Kontaktabbruch manchmal über Jahre vorbereitet. Dass sie ihn gehen können, ist mitunter auch ein Zeichen der Stärke und Selbstfürsorge.

Es sind viele unbewusste Aspekte, die über Jahre an einer Entwicklung hin zum Kontaktabbruch beteiligt sind. Und was unbewusst ist, lässt sich nicht bewusst steuern.

Die Nachkriegsgeneration

Wenn man einmal an die Bücher der Autorin Sabine Bode über die „Kriegskinder“ und „Kriegsenkel“ denkt, dann findet man hier weitere Puzzleteilchen, die zum Verstehen beitragen können. Viele kriegstraumatisierte Menschen entwickeln einen ganz eigenen Umgang mit Gefühlen – sie verdrängen oft viel und stellen sich selbst „kalt“. Sie wollen nicht weinen und keine Trauer zeigen, weil sie Sorge haben, dann ganz zusammenzubrechen. Oft war in der Nachkriegszeit kein Platz für die emotionalen Belange der Kinder. Sind die Eltern doch oft knapp mit dem Leben davon gekommen, und waren sie froh, wenn sie etwas zu essen hatten, dann erschienen die Ängste und Sorgen der Kinder dagegen oft wie ein Klacks.

Viele der heute 70-Jährigen wuchsen in einer Zeit auf, in der sie als Kleinkinder selbst nicht viel Raum fanden, um sich emotional entwickeln zu können. Sie standen oft mit ihren Ängsten und Nöten alleine da.

Es gab keinen Raum für eigene Trauer, eigenen Ärger, eigene Wünsche. Nach vorne gucken sollte man, Respekt haben sollte man, die Ehre der Familie war alles, was man noch hatte. Vielleicht war es auch nicht der Krieg, vielleicht waren es andere Umstände: Viele Menschen werden groß, ohne dass sie einen Raum für ihre Gefühle finden konnten, ohne dass ihre Eltern ihre Gefühle ausreichend „containen“ konnten.

Das Ergebnis: Gefühlsdinge werden „verkopft“, Gefühle werden verdrängt und sind nicht mehr bewusst. Viele Verdrängungs- und Verleugnungsprozesse führten auch zu einem ständigen Verdrehen der Wahrheit.

Wer selbst keine Eltern und auch sonst niemanden hatte, der ausreichend Wärme und Wohlwollen zeigte, Mitleid hatte und Trost spendete, der geht auch hart mit sich selbst um. Zwar können viele emotionsarme Eltern durchaus warmherzig sein und Liebe an ihre Kinder weitergeben, aber doch ist da oft eine große „Gefühlslücke“ – es fällt vielen Eltern schwer, über Gefühle zu sprechen. Sehr viele würden gerne anders sein, aber sie können es nicht. Und das ist oft schwer für die Kinder zu verstehen: dass die Seele eben auch ihre eigenen „Behinderungen“ hat. Zu oft denken wir: Wer nur will, der kann auch. Aber so ist es auch im Seelischen oft nicht.

Für Trauer wenig Platz

Bei Angelika Kindt wird deutlich: Sie hat unglaublich viel Trauriges erlebt und war letzten Endes doch allzu oft allein damit. Zwar konnte sich die Autorin durch ihre große Kraft immer wieder neu motivieren, sie konnte nach vorne schauen und Unglaubliches leisten. Aber für den Schmerz war nicht ausreichend Platz. Zwar gab es Phasen der Trauer, aber es musste doch weitergehen. Dabei hätte die Autorin selbst wahrscheinlich eine mütterliche oder väterliche Figur gebraucht, so dass Trauer, Ohnmacht, Wut und auch Passivität nicht so schnell hätten verdrängt werden müssen. Nur gab es damals wenig Hilfsangebote, wie die Autorin selbst schreibt. Psychotherapie ist doch ein Angebot, das heute fast selbstverständlich erscheint – doch das war es vor noch gar nicht allzu langer Zeit überhaupt nicht.

Wenn Schmerz, Leid und Trauer größtenteils nur dadurch bewältigt werden können, dass man notgedrungenermaßen Kräfte mobilisiert und weitermacht, bleiben die Gefühle und Probleme unbewusst bestehen.

Unbewusste Schlüssel und Schlösser

Angelika Kindt schreibt oft von der Diskrepanz, die sie und ihre Tochter gespürt haben: Während sich die Autorin kräftig und selbstständig fühlte, fühlte Maya sich so, als ob sie ihrer Mutter ständig helfen müsse. Auch Sabine Bode schreibt in ihrem Buch „Kriegsenkel“ von dieser Diskrepanz. Während die Kinder berichten, dass es ihnen in ihrer Familie sehr schlecht ging, dass sie sogar Gewalt erfahren haben, sehen die Eltern das ganz anders. Sie berichten, dass es ihren Kindern gut ging und dass sie sogar verwöhnt waren. Diese Diskrepanz kann nur durch nachträgliches Hinschauen und Verstehen geringer werden.

Wortlos

Die unbewussten Aspekte, die in der Mutter-Kind-Beziehung (oder auch Vater-Kind-Beziehung) sehr stark sind, für die beide aber (noch) keine Worte finden, bewirken, dass sich das Kind zurückziehen muss. Nur so kann das Kind dem ungesunden Kreislauf in der Beziehung entgehen.

Dieser unbewusste Kreislauf ist – wie der Name schon sagt – „unbewusst“. Das heißt, die Beteiligten haben keinen Einfluss darauf. Die unbewussten schwachen Anteile der Mutter können schwächend und verwirrend auf das Kind wirken.

Das Kind begibt sich auf die Suche und findet außerhalb der Familie Quellen des Verstehens, wodurch es gestärkt wird. Solch eine Stärkung geschieht oft in einer Psychotherapie. Sowohl viele Kinder, die ihre Eltern verlassen als auch die verlassenen Eltern arbeiten an sich, indem sie eine Therapie machen. Sie können hier die unbewussten Anteile bewusst werden lassen. Wenn das gelungen ist, können manche Kinder zu ihren Eltern zurückkehren, weil sie dann nicht mehr in die unbewusste Beziehungsschleife geraten, die sie am Ende teilweise sogar mitgestalteten. Durch Verstehen können sie sich dem Sog des erneuten Ergriffenwerdens entziehen.

Wann kommt der Bruch?

Angelika Kindt beschreibt sehr anschaulich, an welcher Stelle der Kontaktabbruch geschah: Als sie Maya nach der eigenen Familienplanung fragte. Das ist wohl der Knackpunkt bei sehr vielen Kindern, die ihre Eltern verlassen. Die Kinder bemerken, wie schwierig es für sie ist, eine Beziehung zu einem Partner zu knüpfen und sich selbst ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Hier kommen die Schwächen, die in der Kindheit durch die unbewussten Aspekte entstanden sind, geballt zum Vorschein. Die Kinder sind selbst geschockt. Sie erkennen das Ausmaß ihrer Schädigung, ihrer „Beziehungsstörung“, jetzt ganz deutlich. Sie werden wütend und geben den Eltern die Schuld. Sie ziehen sich zurück, um ihrer eigenen Familiengründung eine Chance zu geben.

Hierbei handelt es sich um „innere Welten“. Äußerlich können diese Kinder eine augenscheinlich schöne Kindheit gehabt haben – doch innerlich spüren sie etwas anderes.

Jede Mutter handelt im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Wenn eine Mutter eine körperliche Behinderung hat, dann sagt man leicht: „Ja, sie konnte ja ihre Tochter nicht hochheben, sie hatte ja eine körperliche Behinderung.“ Aber wenn diese „Behinderung“ – oder besser gesagt: „Begrenzung“ – eine Stelle der Psyche betrifft, dann ist es viel schwieriger, das anzuerkennen, weil wir immer noch meinen, auf alles Psychische selbst Einfluss zu haben.

„Jeder ist seines Glückes Schmied – Sie (sind es) auch!“, schreibt Angelika Kindt (S. 135). Das ist aber nur zum Teil wahr.

Es geht um psychische Begrenzungen

Angelika Kindt schreibt davon, dass Kinder ja erwachsen werden, eine eigene Meinung haben, selbst verantwortlich sind. Doch aus psychoanalytischer Sicht stimmt das nur zum Teil. Ein erwachsener Mensch ist nie ganz erwachsen – immer trägt er in seiner Psyche auch kindliche, ungereifte Anteile mit sich, die sich dann und wann als „kindisches Verhalten“ äußern. Es gibt psychische Entwicklungsstränge, die nicht gerade verlaufen und nicht auf der Erwachsenen-Ebene landen. Wenn ein Patient zum Psychoanalytiker kommt, dann schaut der Analytiker auch immer danach, an welchen Stellen der Patient auf einer kindlichen Ebene stehengeblieben ist („Fixierungspunkte“). Solch ein Stehenbleiben auf kindlicher Ebene kann sich an vielen Stellen der kindlichen Entwicklung ergeben. Beispielsweise haben manche Kinder nicht die Gelegenheit zu lernen, sich von der Mutter oder dem Vater abzugrenzen – sie spüren die Schwächen der Eltern und haben Angst, sie zu verletzen. Dadurch hindern sie sich manchmal selbst daran, neue Schritte zu wagen.

Angelika Kindt schreibt sehr anschaulich, wie Maya ihr oft nette Dinge gesagt hat – auf mich als Leserin wirkt das manchmal künstlich. An der Stelle jedoch, an der mir als Leserin Maya sehr echt vorkommt, zweifelt die Mutter daran, dass Maya da „echt“ ist: Die „Kündigungsmail“, die Maya ihrer Mutter schrieb, war so hart, dass die Mutter das Gefühl hatte, es könne nicht von der Tochter kommen.

Auch hier wieder ist die Diskrepanz da zwischen dem, was die Tochter zum Ausdruck bringen möchte und dem, wie die Mutter es versteht. Möglicherweise schafft die Tochter es erst aufgrund der räumlichen Trennung, eine andere Seite von sich zu zeigen, die aufgrund des unbewussten Zwangs zur Nähe nie zum Vorschein kommen durfte. Sie erscheint dann vielleicht „roh“, aber doch durchaus „echt“.

Ein neues Bild entsteht

Das Gedankenkarussell der Autorin zeigt deutlich, dass sich durch Nachdenken allein nur teilweise Lösungen finden lassen. Oft erst, wenn Unbewusstes bewusst wird, hört das Gedankenkarussell auf – wenn unverarbeitete Trauer ihren Platz findet oder eigene Schwächen endlich zugelassen werden können. In einer psychoanalytischen Therapie können viele Betroffene diese Erleichterung finden. Wie das funktioniert, lässt sich oft nur schwer beschreiben. Die Patienten sagen anfangs oft: „Aber ich weiß doch alles.“ Das stimmt oft – doch sie haben es oft noch nicht emotional begriffen.

Wer Lavendel kennenlernen will, der kann alles Mögliche darüber lesen, Er kann Lavendel mit dem Mikroskop betrachten, er kann Biologie studieren und auch über Lavendel promovieren. Doch wenn er nie an Lavendel gerochen hat, dann fehlt ihm die wichtigste Erfahrung – der Duft von Lavendel geht über die Theorie hinaus.

Viele Kinder bzw. die heutigen jungen Erwachsenen, haben die Möglichkeit, eine psychoanalytische Therapie machen zu können. Dadurch erfahren sie sehr viel Neues. Und dann gibt es erneut eine Diskrepanz: Viele betroffene Eltern machen keine Therapie. Die Kinder werfen dann den Eltern vor, sie würden sich nicht mit sich selbst auseinandersetzen. Viele Eltern können dann unmöglich begreifen, was die Kinder in der Therapie gelernt haben. Natürlich kann es auch umgekehrt sein: Mutter oder Vater machen eine jahrelange Psychotherapie, doch das Kind kommt nicht zurück.

Jeder hat nur begrenzte Möglichkeiten, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Jeder stößt innerlich an Grenzen, die sich nicht überwinden lassen.

Wenn die betroffenen Kinder in der analytischen Therapie die Erfahrung mit einer „besseren Mutter“ machen können, reifen sie nach. Die „Erfahrung mit der besseren Mutter“ ist ein Begriff aus der Psychoanalyse. Das bedeutet nicht, dass die eigene Mutter „schlecht“ war – sondern, dass sie vielleicht so große psychische Schmerzen hatte, dass sie dem Kind nicht genügend emotionalen Raum zur Verfügung stellen konnte. Das ist nicht im Sinne von „Schuld“ zu verstehen, sondern eher im Sinne eines „Schicksals“.

Viele Eltern haben natürlich Angst davor, dass ihnen die Zeit wegläuft. Wie ist es, zu sterben, ohne noch einmal das Kind zu sehen? Wie ist es für Kinder, wenn die Eltern sterben und sie sie nicht noch einmal gesehen haben? Nicht selten taucht mehr oder weniger bewusst die Angst vor einer wie auch immer gearteten „Strafe“ auf. Nicht wenige Kinder sind tatsächlich erleichtert, wenn Mutter oder Vater gestorben sind. Darüber zu sprechen, ist nicht leicht.

Der Weg zurück

Manches Kind findet nach einer Psychotherapie wieder den Weg zurück zu den Eltern. Es hat sich kennengelernt und fühlt sich abgegrenzt, so dass die unguten, unbewussten Beziehungsschleifen nicht mehr entstehen – unabhängig davon, ob sich auch die Eltern weiterentwickelt haben oder nicht.

Viele Kinder sind versöhnt, wenn es schließlich mit der eigenen Familiengründung geklappt hat. Manche können sich innerlich und/oder äußerlich neu verorten und versöhnen, andere nicht. Viele haben Unvorstellbares zu Hause erlebt.

Angelika Kindt beschreibt das Gefühl des „Versteinertseins“, das sie nach der Trennung von Maya hatte. Es erinnert an Märchen und Mythen, in denen die Figuren versteinern – ein vielschichtiges Symbol. Die Versteinerung kann oft erst enden, wenn sich das Leben weiterentwickelt hat und Tränen der Trauer zum Vorschein kommen.

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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 2.5.2011
Aktualisiert am 5.10.2023

9 thoughts on “Buchtipp: „Wenn Kinder den Kontakt abbrechen“

  1. AnnaLenaSchmidt sagt:

    Liebe Frau Voos, haben Sie vielen Dank für Ihre differenzierte Auseinandersetzung – ich habe Frau Kindt mal in einer Doku gesehen und mich sehr aufgeregt – natürlich, weil ich von der anderen Seite her komme und meine Mutter verlassen habe, die es bis heute nicht akzeptiert und mich kontaktiert. Wie dem auch sei, ich wollte noch etwas zu dem Bestrafen-Aspekt zu Elke Thiel sagen: Ich kann natürlich nicht für ihre Tochter sprechen, aber ich wünsche mir nach wie vor, dass es meiner Mutter gut geht, ich will nicht, dass sie leidet. Aber ich wollte auch nicht mehr leiden – und mit ihr im Kontakt ging es mir einfach nur schlecht – und da sie es immer noch versucht, wird es wohl so lange anhalten, bis uns der Tod trennt. Zumindest kann ich aber sagen, dass ich alles versuche, um für mich gut zu sorgen – und mein Abschiedsbrief an sie war ein Akt der verzweifelten Selbstfürsorge. Ich fürchte mich davor, dass meine Mutter eines Tages auch mal ein Buch herausbringt und – wie früher auch – all ihr Leid an erste Stelle stellt und irgendwie auch so wieder nach mir greifen würde. Maya tut mir jedenfalls Leid. Ich kann mir auch vorstellen, dass sie in ihrer Abschiedsmail eben gerade „echt“ war, wo wie ich es auch in meinem Abschiedsbrief war – nur was passiert mit der Echtheit, wenn sie keinen Platz hat in der Beziehung zur Mutter? Für mich ist das nur wieder ein Beweis, dass da einfach was hinten und vorne nicht stimmt, wenn so deutlich Geschriebenes einfach ignoriert oder als „nicht echt“ bezeichnet wird. Meine Mutter jedenfalls hat meinen Abschiedbrief ignoriert, mein Vater, der einen eigenen Brief bekam, übrigens auch – letzterer ist mittlerweile tot. Und das ist in der Tat eine Erleichterung – so schlimm das ist, so etwas zu sagen bzw. zu schreiben. Und ich verzeihe meinen Eltern – sie waren halt, wie Sie schreiben, Frau Voos, begrenzt – aber das heißt nicht, dass ich mich weiter quälen lasse, weil sie aus ihren Mustern nicht rauskamen bzw. -kommen. Wenn sie gern ihr Leben und ihre Beziehungen so gestalten möchten, ist das ok. Ich möchte es so nicht. Es ist schon erstaunlich, dass man Freundschaften und Liebesbeziehungen beenden darf, aber scheinbar nicht die zu den Eltern. Kinder sind als Kinder abhängig von den Eltern und müssen sie irgendwie lieben, egal wie schlimm, kalt, egozentrisch, depressiv, abhängig oder sonst was sie sind – sie sind dazu verdammt. Kinder, die gehen, bestrafen (schätze ich) ihre Eltern nicht – sie suchen Freiheit und sorgen für sich selbst. Und sie suchen Beziehungen, die ihnen endlich gut tun, sofern sie sich noch an Beziehungen trauen.

  2. Elke Thiel sagt:

    Als beroffene Eltern (!) ,deren 45jährige Tochter (Älteste von 4 Kindern) vor ca 3 Jahren den Kontakt abgebrochen hat, haben wir einen Aspekt bisher vermißt: Wir haben die Vermutung, dass unsere Tochter uns b e s t r a f e n möchte.
    Damit übt sie natürlich Macht über uns aus. Ein Aspekt, den wir trotz professioneller Hilfe noch nicht
    bewältigt haben.
    E.T.

  3. abc sagt:

    Liebe Frau Dr. Voss,

    Ihr Artikel hat mich sehr berührt – ganz herzlichen Dank dafür!

    Wir Kinder diskutieren auf einer nichtkommerziellen Seite/Forum und erzählen dort auch unsere Geschichten. Wir wünschen uns weitere Mitleser und Mitschreiber – das wäre ganz toll! Es ist ein sensibles Thema.
    Ist es sehr „unverschämt“ , unseren Link hier zu veröffentlichen?
    Es wäre sogar unglaublich bereichernd für uns Kinder, wenn Sie selbst mitlesen und eventuell etwas posten würden.

    http://beziehungswaisen.weebly.com

    Ganz herzliche Grüße
    abc (im Forum auch abc)

  4. Andrea sagt:

    Meine Tochter war mein Leben. Ich habe viele Fehler gemacht und ich glaube durchaus, sie sind mir bewußt!

    Meine Tochter hat mich plötzlich nach ihrem Krankenhausaufenthalt verlassen. An einem Tag hatte ich sie dort noch besucht und als ich am nächsten Tag von der Arbeit kam, war ihr Zimmer hier zu Hause komplett leer geräumt. Es gab keinen Abschied, keinen Brief, keine Worte. Sie ist 19 und zu ihrem Vater gezogen, der ihr bei ihrem Auszug geholfen hat. Ich habe in ihrer Gegenwart immer ein hohe Meinung von ihrem Vater gehabt und bin umso erschrockener darüber, wie er auf seine Art mit mir ins Gericht zieht. Die Trennung von ihm hat er mir ein Leben lang gegrollt.

    Ich bemühe mich nicht um Kontaktaufnahme, auch die Feiertage sind ohne Annäherung verlaufen, und hoffe auf keine Versöhnung. Da ich selbst aus stark gestörten Verhältnissen komme, kenne ich die Unmöglichkeit einer Wiederannäherung.
    Ich bin stolz darauf, dass ich offensichtlich mein Kind mit genügend Selbstvertrauen ausgestattet habe, diesen Schritt zu tun. Selbstvertrauen war mein oberstes Gebot in der Erziehung. Meine Mutter hat mich abgelehnt, mit 15 raus geschmissen und ich bin ihr Jahre lang erfolglos wie ein geprügelter Hund nach gelaufen in der Hoffnung auf Versöhnung und Zuneigung. Die furchtabre Kälte, die mich mit 15 überkommen ist bin ich mein Leben lang nie mehr los geworden. Sie hat mich verhöhnt noch mit 30 und später gedemütigt und verletzt – bei jeder Begegnung.
    Nun ist meine Tochter gegangen, ich war fassungslos! Ich habe zwar Pläne, weil ich ja weiter leben muss. Aber mein Lebenswille an sich ist gebrochen und ich habe keine Lust mehr. Ich bemühe mich, mir nichts vorzumachen. Mein Leben war schwierig und unstrukturiert. Entsprechend meinen Kräften, meinem Bewußtsein und meinem Wissen habe ich für meine Tochter das mir Mögliche getan. Es war ihr nie genug, das zeichnete sich schon früher ab, ich wurde immer wieder von Freunden & anderen gewarnt, sie nich so sehr zu verwöhnen. Emotional blieb mit Sicherheit einiges auf der Strecke, JA! Das weiß und wusste ich stets auch zu gegebener Zeit und ich war doch unfähig. Wie ein Blinder, der die Farben beschreiben soll. Mehr kann ich jetzt dazu nicht sagen. Ich bin ebenfalls versteinert und verzweifelt. Jedes Bemühen, zu ihr Kontakt aufzunehmen halte ich für absolut überflüssig und sinnlos. Aber wie soll ich noch Jahre weiter leben mit diesem Gefühl, man hätte mir ein riesen Stück aus meiner Seele gerissen. Therapie und all das halte ich ebenfalls für überflüssig, denn ich kenne mein Innerstes sehr genau und kann auch ihre Beweggründe sehr genau nachvollziehen.
    Danke für den Artikel. Es war das erste mal, dass ich so was gelesen habe. Es war damit das erste mal, dass ich über ihren Verlust weinen konnte!
    LG Andrea

  5. Dunja Voos sagt:

    Liebes Grünes Blatt,

    vielen Dank für Ihren Hinweis. Ich habe den Satz herausgenommen. Die Bandbreite der Leser hier ist riesig und unter ihnen sind doch „überraschend“ (?) viele „Kinder“, die psychische/körperliche Gewalt erlebt haben.

    Viele Grüße
    Dunja Voos

  6. Luise sagt:

    Für Filia,

    leider wurde hier nur das Buch komentiert, es gibt sehr wenige s u b t i l e Aussagen zur eigenen Situation.
    Es wäre hilfreich für Frau Kindt gewesen, wenn sie sich mit der Tochter hätte auseinander setzen können, vielleicht wäre dann dieses Buch nie geschrieben worden.
    Jeder hat eine andere Strategie seine Situation zu bewältigen, die Autorin ging mit ihrem Schmerz über den Verlust der Tochter an die Öffentlichkeit. Ob der Name der Tochter dafür eine Rolle spielt, bezweifle ich, Maja hätte sich erkannt, egal wie sie in dem Buch von ihrer Mutter genannt worden wäre.
    Beziehungsbeendung nicht Kontaktabbruch wie es Filia ausdrückt, bedeutet Unendlichkeit und klingt absolut und resolut und zeigt Stärke. Die Stärke, die in solchen Kindern vorhanden ist, sollte dafür auch eingesetzt werden, um das der Mutter/Eltern mitzuteilen, nicht subtil, sondern ehrlich.
    Dann hätte auch die Mutter die Chance einen Schlußstrich zu ziehen. Frau Kindt wartet immer noch auf die Tochter und für mich klingt das Buch nach einem Hilfeschrei.

    Kontaktbeendungen haben ihre Ursachen und sollten mit den Betroffenen wenigstens so vollzogen werden, dass diese nicht den Boden unter den Füßen verlieren. Der Verlassene hat sich dann zu fügen und in Stillschweigen zu hüllen bis er stirbt. Es gibt immer zwei Wahrheiten und abgeschlossen ist so eine Sache nie, weder für den Kontaktabbrecher noch für den Verlassenen, das ist daran das fatale.

    Als Kind von der anderen Seite mit sehr viel psychologischem Hintergrundwissen wünsche ich Filia, dass sie irgendwann die Kraft hat, ihrer Mutter mitzuteilen , dass sie nichts mehr mit ihr zu tun haben will, wenn das nicht schon passiert ist. Davon war leider nichts zu lesen.

    Das ist für mich als betroffene Mutter crazymaker, denn auch mir wird dieser sehr wichtige Satz verweigert, von Auseinandersetzung ganz zu schweigen.

  7. Filia sagt:

    Danke, Frau Dr. Voss, für die Passage Ihrer Rezension über die Kraft und den Mut, die es „solche Kinder“ kostet, sich von einer – ich nenne es – toxischen (Nabelschnur)Verbindung zu lösen. Dafür bin ich Ihnen – als Betroffene „der anderen Seite“ – tatsächlich sehr dankbar.

    Wenn die junge Frau wirklich Maya heißt, bin ich erschüttert, dass die Autorin ihre Tochter einfach öffentlich macht. Für mich wäre ein Zeichen von Liebe und Respekt, sie zu anonymisieren, wenn schon die Geschichte aus einer einseitigen, subjektiven Sicht ans Licht der Öffentlichkeit kommt… Ich hatte spontan und aus dem Herzen heraus tiefes Mitgefühl mit der Tochter.
    Ja, hinter diesem Akt steckt für mich subtile Aggression, im lateinischen Sinne von aggredere. Natürlich öffnet diese sehr emotional besetzte Thematik Tür und Tor für (eigene) Projektionen. Für mich ist das Buch eine Aggression gegen die Tochter. Ein: „Schau (gefälligst) her!“ oder „Mit mir musst du dich jetzt auseinandersetzen!“
    Denn auch wenn die Autorin sagt, sie habe abgeschlossen und verziehen, ist das Buch in meiner Wahrnehmung ein Paradoxon dieser Aussage. Irgendwie wird die Tochter davon erfahren… bei der Medienresonanz zumal. Es wird sie (be)treffen. Und das soll es ja wohl auch, nicht wahr?!
    Ich lese zwischen den Zeilen genau das heraus, was mich selbst damals den Kontakt zu meiner Mutter beenden (beenden, nicht abbrechen!) ließ: Doppelbotschaften. Subtil, sehr subtil. Crazymaker sind und waren das für mich – als Kind schon und heute. „Ich will anderen Eltern helfen!“ Zwischen den Zeilen schwingt für mich: „Ich will der Welt erzählen, was mir angetan wurde…“ („Und ich freue mich über die Bestätigung von außen, dass es richtig war…“)
    Wenn ich im Reinen bin mit mir und meiner Entscheidung der Akzeptanz, brauche ich keine Bestätigung von außen. Dann kann ich anderen Eltern Unterstützung bieten, ohne den anderen Menschen ungefragt so zu exponieren… Ich erlebe dies als manipulativ und benutzend. Und dabei finde ich das Seelisch-Emotionale viel schwer wiegender als den finanziellen Gewinn und die Neukundengewinnung, die das Buch zur Folge haben wird. Dies als Ich-Botschaften einer anderen „solchen“ Tochter.

  8. Luise sagt:

    Diese Kontaktabbrüche entstehen meistens erst dann, wenn das „Kind“ eine Therapie macht. Sicher hätten Therapeut und Klient auch andere Möglichkeiten, die Situationen zu klären, aber in diesen therapeutischen Sitzungen lässt man kein gute Haar an den Eltern/Müttern und oftmals an der gesamten Familie. Deswegen haben diese Abbrecherkinder zu keinem der Familienangehörigen eine Verbindung, von Beziehung ganz zu schweigen.
    Wie geht es diesen Menschen damit. Ich kann eine Antwort geben, denn genau das habe ich erlebt, am Ende meiner Therapie hatte ich mit Mutter, Bruder und Neffen gebrochen, ein paar Jahre später ist meine Ehe auseinander gegangen und vor fünf Jahren hat meine Tochter den Kontakt zu mir abgebrochen.
    Ist das der Sinn einer Therapie.?
    Wo bleibt in diesen Sitzungen Empathie für die zurückbleibenden Abgehörigen. Frau Kindt erwähnt in ihrem Buch, dass viele Eltern krank werden und deswegen früher sterben. Sicher haben auch einige einen Suizid vorgenommen, wie damals meine Mutter, die gerettet werden konnte.
    Die Allmacht der Therapeuten ist nicht gut, das Machtgefälle in diesen Sitzungen ist für alle ungesund. Mag sein, dass der Patient zunächst gefestigt und gestärkt aus seiner Therapie kommt, mit den Spätfolgen muss er dann selbst zu Recht kommen.
    Die Mail, die damals die Tochter an Frau Kindt geschrieben hat, kam ihr nicht echt vor. Ich glaube. da kann ich mich in meinen Erfahrungen anschließen, alles was meine Tochter während ihres Abbruchs aufgeführt hat, hatte mit ihr nichts mehr zu tun. Ob das dann das wahre Ich eines Menschen ist, was da in der Therapie nach oben kommt, mag ich mittlerweile bezweifeln, diese Menschen werden aufgehetzt gegen ihre Eltern.
    Abgrenzung muss sein zwischen Kind und Eltern, und nirgends läuft alles richtig, aber was wird aus den Kindern dieser Kinder, wieder Abbrecher? Was passiert, wenn die Kinder nicht den Weg zurück finden, wenn Enkelkinder nie die Großeltern kennen lernen dürfen, wenn sie nicht wissen, wo ihre Wurzeln sind?
    Dazu fällt mir ein Zitat von Charles Darwin ein.
    „Alles was gegen die Natur ist, hat auf Dauer keinen Bestand“

    Hätte ich gewusst, was mir in meinem Leben nach der Therapie alles passiert, ich hätte einen großen Bogen um diese Praxis gemacht.

    L.

  9. Kindt sagt:

    Liebe Frau Dr. Voss, ich habe mich sehr über Ihre differenzierte Buchbesprechung gefreut, vielen Dank! Es bedurfte tatsächlich viel Mut meinerseits, dieses Buch zu schreiben.Die vielen Rückmeldungen sind jedoch so unterstützend, dass ich weiß, ich habe es richtig gemacht. Am 27.5. bin ich in die Talkshow „Kölner Treff“ eingeladen, um über das Thema „Kontaktabbruch“ zu reden. Danke für die Weiterempfehlung. Angelika Kindt

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