Schwellengefühle

Wir schenken ihnen kaum Aufmerksamkeit, dabei sind sie so mächtig: die Momente auf der Schwelle. Das Baby weint, wenn es ins Bettchen gelegt wird – zu groß ist das unangenehme Gefühle an der Schwelle zum Getrenntsein und zum Schlaf. Da ist das gequälte Mädchen, das fast einen Orgasmus bekommt, weil sie hört, dass ihre Mutter gleich zur Tür hereinkommt (Beispiel erzählt von Professor Wolfgang Berger im Podcast). Bevor die Psychotherapiestunde beginnt, kommt der Druck, auf die Toilette zu laufen. Gleich geht der Vorhang auf und man betritt die Bühne.

Warten auf Veränderung

Im Wartezimmer des Arztes meint man, gleich ohnmächtig zu werden. Aufatmen, wenn der eigene Name gerufen wird. In wenigen Augenblicken kommt das Date auf einen zu – man begrüßt sich nervös mit einem Händeschütteln. Während ich in großer Angst erstarre, möchte der andere mich in den Arm nehmen. Doch dieser Schritt erscheint unmöglich. Zu stark ist die Schwelle und die Befürchtung, dann sei man gleich ganz verloren.

Der schwierigste Schritt ist vielleicht der Schritt über die Schwelle zurück zum Frieden, wenn man gerade im Kampf ist.

Doch wenn man es wagt und die unangenehmen Gefühle auf der Schwelle zulässt, lässt sich die Erfahrung machen, dass Erleichterung eintreten kann. Es entsteht ein neuer psychischer Zustand, der angenehm und vertraut ist: Das Zuhause in sich selbst ist wiederentdeckt. Immer besteht jedoch auch die Gefahr, dass man in einer noch größeren Hölle landet. Das ist die Erfahrung, die viele schwer traumatisierte Menschen gemacht haben. Heilende Beziehungen können helfen.

Schwellengefühle bewusst wahrzunehmen, kann bereichern. Wer sich in unbekannte Welten begibt, macht sich vertraut mit der Welt.

„Die Schwelle ist ganz scharf von der Grenze zu scheiden. Schwelle ist eine Zone, Wandel, Übergang. Fluten liegen im Worte ’schwellen‘ …“ Walter Benjamin. In: Philosophie für Einsteiger von Antonio Roselli und Ansgar Lorenz, Wilhelm-Fink-Verlag 2017, S. 108 und ebenda: „Benjamin ist nicht so sehr von den klar gezogenen Linien der Grenzen, sondern von den durchlässigen Übergangszonen fasziniert, die eine eigene Form der Erfahrung – er nennt sie „Schwellenerfahrung“ – bedingen.“

„Dort ist das Tor der Bahnen der Nacht und des Tags;
ein Türsturz umschließt es und eine steinerne Schwelle.“
Parmenides, Fragment I, Kirk/Raven 2001: S. 267
siehe auch: Parmenides, gottwein.de, siehe auch jurclass.de

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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 3.6.2022
Aktualisiert am 24.9.2022

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