Antidepressiva können die Fähigkeit zu weinen verringern

Das Weinen hat eine wichtige Funktion. Ähnlich wie beim Lachen entspannen sich beim Weinen die Muskeln. Es wird etwas „abgeführt“, das Weinen erleichtert uns normalerweise. Menschen mit Depressionen berichten jedoch oft, dass sie das Weinen anstrengend finden. Es ist, als hätte es seinen Sinn verloren. Manche Menschen sprechen von „Traurigkeit“, wenn sie von Depression sprechen. Tatsächlich ist die Depression aber oft eher eine Unfähigkeit, Trauer zu empfinden und traurig zu sein. Auch andere „negative“ Gefühle können in der Depression schlechter wahrgenommen werden. Stattdessen macht sich oft Gefühllosigkeit, Gelähmtheit, Erschöpfung und eine Starre breit.

Manchmal fällt es uns schwer, zu weinen, wenn wir alleine sind. Wenn wir aber einer vertrauten Person gegenüber sitzen, dann öffnen sich die Schleusen. Wir können die Traurigkeit zulassen, wenn wir einem Menschen gegenübersitzen, der sie aufnimmt.

Antidepressiva greifen in viele Vorgänge ein

Heute bekommen Menschen mit Depressionen meiner Meinung nach viel zu früh und viel zu lange Antidepressiva verordnet. In meiner Privatpraxis verordne ich grundsätzlich gar keine Medikamente – besteht der Wunsch nach Medikamenten, schicke ich die Betroffenen zum Psychiater. Meiner Erfahrung nach trüben Antidepressiva den Kontakt zu sich selbst und zu anderen. Es entsteht so etwas wie eine „Mauer im Kontakt“, die auf eine gewisse Art das Leben aus der Beziehung nimmt. Am auffälligsten ist dabei oft: Menschen, die Antidepressiva nehmen, können nicht mehr weinen oder nur erschwert weinen. Viele empfinden das als eine positive Wirkung, viele Betroffene aber fühlen sich dadurch noch mehr gelähmt.

Antidepressiva greifen in den Stoffwechsel des gesamten Körpers ein.

Manche Menschen bekommen von Antidepressiva Hautausschlag (z.B. von Venlafaxin oder Pregabalin), vielen ist besonders am Anfang der Medikamenteneinnahme übel. Antidepressiva beeinflussen aber auch die Muskulatur (siehe z.B. McCarter et al. 2015), die Verdauung, das Sexualleben und das Immunsystem (z.B. de Berardis et al. 2010). Viele empfinden während der Antidepressiva-Einnahme weniger sexuelle Lust und klagen über sexuelle Funktionseinschränkungen.

Aus dem evangelischen Magazin Chrismon:
„Tränen sollen fließen, nicht sofort weggetrocknet werden. Nur dann, sagt der Schriftsteller Robert Seethaler, stellt sich irgendwann auch Trost ein. … Es wird zu leichtfertig getröstet. Die Traurigkeit muss erst einmal ins Fließen kommen …“ chrismon.evangelisch.de/print/42241

Ohne Medikamente wird aus meiner Sicht vieles leichter

Was viele Patienten als besonders störend empfinden, ist die Unfähigkeit, zu weinen, wenn sie das Antidepressivum nehmen. Damit fehlt ihnen ein wichtiges Kommunikationsmittel und ein Weg, sich selbst zu erleichtern, loszulassen und zu entspannen. Wenn sie merken, dass diese Fähigkeit zu Weinen zurückkehrt, sobald sie das Antidepressivum absetzen, sind viele sehr erleichtert. Sie fühlen sich wieder lebendiger und erleben auch die Psychotherapiestunden als entwicklungsfördernder. Es heißt weitläufig: „Manche Patienten brauchen erst Medikamente, um für die Psychotherapie zugänglich zu werden.“ Ich sehe es meistens umgekehrt: Erst, wenn die Medikamente wieder abgesetzt sind, sind die Betroffenen wirklich erreichbar in der Psychotherapie.

Literatur:

Jorge Carlos Holguín-Lew and Vaughan Bell (2013):
“When I Want to Cry I Can’t”: Inability to Cry Following SSRI Treatment
Revista Colombiana de Psiquiatría
Volume 42, Issue 4, December 2013, Pages 304-310
https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S003474501370026X

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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 9.1.2019
Aktualisiert am 18.4.2023

3 thoughts on “Antidepressiva können die Fähigkeit zu weinen verringern

  1. Sonja Sage sagt:

    so hat jeder seine Erfahrungen. Ich könnte 2003 überhaupt nicht mehr aufhören zu weinen. Bin nicht aus dem Bett gekommen. Nichts gegessen. Seit dem nehme ich Venlaflaxin. Zur Zeit 75 und 37, 5. Ich war auch bis zum Maximum. Für die Schmerzen bekomme ich 2x 50mg Opiat. Ich kann Trauern mit Tränen und auch lachen. Mein Wunsch, dieses Medikament abzusetzen endete in Chaos. Was mich interessiert, welche Mineralien und Vitamine werden durch diese Medikamente meinem Körper entzogen?
    MfG Sonja Sage

  2. Dunja Voos sagt:

    Liebe Maria, danke Ihnen sehr für Ihren Erfahrungsbericht. Viele Grüße, Dunja Voos

  3. Maria sagt:

    Guten Tag,
    vor ca. 3 Monaten habe ich meine Antidepressiva und Lithium abgesetzt. Ich nahm in den letzten 2 Jahren 13 verschiedene Medikamente. Seit ich keine Medis mehr nehme, erlebe ich genau das, was Sie hier beschreiben. Ich fühle mich wieder lebendig, ich kann wieder richtig mit Menschen kommunizieren, habe wieder die Fähigkeit mich einzufühlen, ich habe wieder richtig Freude und spüre diese im ganzen Körper und ich kann wieder weinen. Es ist unglaublich. Danke für diesen Bericht, es ist schön zu lesen, dass diese Meinung und diese Erkenntnis auch von jemanden mit Fachkenntnis geteilt wird.

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