Psychoanalyse und Quantenphysik: Wenn sich Teilchen wirklich nahe sind

Liebe sei nichts anderes als die hohe Konzentration des Bindungshormons Oxytocin, sagen manche. Und doch spürt man: Liebe ist nicht nur Chemie, Biologie und Physik. Da ist mehr. „Die Psychoanalyse lässt sich nicht messen“, sagen manche – und ich meine es auch. Der Grund ist vielleicht der, dass sich die Liebe ebenso wenig messen und festhalten lässt wie eine flüchtige und überraschende Kommunikation von „Unbewusst zu Unbewusst“. In der engen Beziehung zwischen Psychoanalytiker und Patient passiert viel. Doch es sind Momente, die oft nicht vorhersehbar und nicht experimentell wiederholbar sind. Ähnlich wie Wolkenformationen lassen sich die Begegnungen nie ganz berechnen.

Was in der Psychoanalyse besonders gut wirkt, ist die emotionale Präsenz des Analytikers – wenn der Patient psychisch in den Keller geht, dann kommt der Analytiker mit. Es tut gut, wenn ich in der Psychoanalyse in unaushaltbare Zustände gerate und spüre, dass da hinter mir der Analytiker sitzt, der bleibt. Möglicherweise kann er sogar in Resonanz treten, wenn er ähnliche innere Schmerzen kennt. Er muss nichts sagen – ich als Patientin fühle mich gehalten. Es bewegt sich viel, wenn der Analytiker träumerisch über mich als Patientin nachdenken kann, wenn er sich also im Zustand der „Reverie“ (französisch: Träumerei) befindet. Auch ich als Patientin kann beim Nachdenken und Sinnieren in einen Trance-ähnlichen Zustand kommen.

Verhaltenstherapie erinnert im Gegensatz zur Psychoanalyse an messbare Physik

Während die Verhaltenstherapie sich sehr stark mit dem bewussten Denken und Fühlen beschäftigt und sich messen lässt, bewegt sich die Psychoanalyse eher in einem schwer zu beschreibenden Bereich. Vielleicht könnte man sagen: Verhaltenstherapie erinnert an Physik und Psychoanalyse an Quantenphysik: Sobald die Psychoanalyse beobachtet wird, verändert sie sich – „es“ passiert einfach. Es ist so ähnlich wie wenn Du eine Bewegung ohne nachzudenken machst und sie dann plötzlich beobachten und beschreiben sollst. Es kann sein, dass Du Dich dann verunsichert fühlst und dass dann gar nichts mehr geht.

In der Psychoanalyse geht es um das Unbewusste, um die Bereiche im Leben, in denen es an Worten fehlt. Es geht um das, was wirksam wird, wenn wir aufhören zu tun, zu machen und „selbstbestimmt“ zu sein. In der Psychoanalyse machen wir als Patient Erfahrungen. Und als Psychoanalytiker versuchen wir, einen Raum für Erfahrungen zu schaffen. Wir stellen einen Möglichkeitsraum zur Verfügung. Erfahren statt erklären ist das Prinzip (sagt auch die Psychoanalytikerin Nancy Mc Williams).

Während der Patient seine Leiden erneut durchleidet, ist diesmal der Analytiker dabei, der Zeuge des Leidens wird und psychisch involviert wird. Der Patient findet Worte und Bilder und lernt, über sein Leiden in einer Form zu klagen, die von anderen verstanden werden kann. Dadurch macht er es sich auf eine neue Weise zu eigen (siehe Dr. Gerald Gargiulo, A Dialoge between Psychoanalysts, Youtube 2012). Veränderung geschieht genau hier.

Als Patient kann ich vielleicht wahrnehmen, wie sich mein „innerer Raum“ weitet. Es entsteht auch etwas „Drittes“ – ein gemeinsamer Raum, den Analytiker und Patient miteinander teilen. So kommt Veränderung zustande: Aus unförmigen, sogenannten Beta-Elementen („unreife“ psychische Elemente) werden in der Psyche denkbare Alpha-Elemente. Der Patient muss nicht mehr reflexhaft weglaufen vor der inneren Katastrophe, sondern kann sie sehen, ohne ihr ganz alleine ausgeliefert zu sein.

Umgekehrt wird auch der Analytiker vom Patienten zur Entwicklung angeregt, sodass man als Analytiker manchmal sagen möchte: „Ich hatte heute eine gute Analyse-Stunde bei meinem Patienten.“ Der Psychoanalytiker Anthony Bass schreibt in seinem Beitrag „Whose Unconscious Is It Anyway?“ („Wessen Unbewusstes ist das hier eigentlich?“): „A number of analysts are beginning to consider the relationship between uncanny moments of deep connection that evoke a sense of telepathic or clairvoyant linkage and the equally and similarly mystifying discoveries in quantum science.“ (Psychoanalytic Dialogues, 2001, 11: 683-702). Frei übersetzt (Voos): Manche Analytiker beginnen, eine Verbindung zwischen den unheimlichen Momenten der tiefen Verbundenheit, die an Telepathie erinnern, und der Quantenwissenschaft zu sehen.

Bachs „Johannespassion“ sind Noten, schwarz auf weiß. Die Klänge und die Gefühle sind damit verbunden und doch losgelöst. Ohne Orchester und Zuhörer blieben die Noten unbelebt.

Zwei Teile reagieren gleich

Anthony Bass erzählt von Begebenheiten mit Patienten, die an Telepathie erinnern und vergleicht sie mit zwei verschränkten Protonen, die miteinander reagieren, auch wenn sie weit voneinander entfernt sind. („Von Verschränkung spricht man, wenn zwei einzelne Quantenobjekte auf bestimmte Weise miteinander verbunden sind.“ Quelle: Patrick Bronner, Mai 2008, Uni Erlangen-Nürnberg, Quantumlab). Zum Vorschein kommt diese enge Verbindung häufig an entscheidenden Punkten des Lebens, z.B. bei Sterbeprozessen, bei Krankheit oder Geburt. Ich bin gespannt, wie sich das Ansehen der Psychoanalyse mit Fortschreiten der Wissenschaft verändert.

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Links:

Gerald Gargiulo (2016):
Quantum Psychoanalysis
Essays on Physics, Mind, and Analysis today
https://ipbooks.net/product/quantum-psychoanalysis-by-gerald-j-gargiulo/

John Charlton Polkinghorne (1930-2021)
Quantum physics and theology – an unexpected kinship
SPCK 2007, amazon

Dr. Mike Adler, University Of Western Australia, 2007:
Help Wanted: Philosopher required to sort out Reality
philosophynow.org/issues/59/Help_Wanted_Philosopher_required_to_sort_out_Reality

Pushpa Misra:
The Scientific Status of Psychoanalysis
Evidence and Confirmation
Routledge, 2016

Herbert Stein:
Quantenphysik, Neurowissenschaften und die Zukunft der Psychoanalyse
Auf dem Weg zu einem neuen Menschenbild
Psychosozial-Verlag 2006

Thomas und Brigitte Görnitz (2016):
Von der Quantenphysik zum Bewusstsein
Kosmos, Geist und Materie
www.springer.com/de/book/9783662490815

Marsha Aileen Hewitt (2019):
Fluid Subjectivities, Extended Minds: Unconscious Communication, Psychoanalysis, and Religion
Altered States Conference 2019
https://youtu.be/HPkNnFXzr3k?si=jle_xbOeK-THo5jj&t=496

Französisch:

Quantenphysik = La physique quantique

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 16.8.2016
Aktualisiert am 20.11.2024

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