43 Wie werde ich Psychotherapeutin/Psychoanalytikerin? Wie ausführlich soll ich die Sitzungen dokumentieren?
In der Psychoanalyse-Ausbildung stellst Du die Sitzungen, die Du mit Deinem Ausbildungs-Patienten hast, nach jeder vierten Stunde (Beispiel DPV) Deinem Supervisor vor. Hier kommt es besonders auf das „szenische Verstehen“ an. Es ist also nicht nur das konkrete Geschehen wichtig – es geht auch um die Dinge, die sich im Vorder-, im Hintergrund und auf Nebenschauplätzen abspielen. Die Informationen, die Du zwischen den Zeilen des Gesagten erhältst, sind ebenso wichtig wie das Gesagte und Gedachte selbst. In welcher Stimme sprach der Patient und wie war er gekleidet? Mit welcher Stimme oder Körperhaltung hast Du geantwortet? Was waren Deine Phantasien, Deine Körperreaktionen und Gefühle? Du beschreibst also nicht nur, was Dir mit dem Patienten konkret passiert, sondern Du beschreibst die Handelnden und die Bühne dazu. Außerdem bildest Du Hypothesen: Wie erkläre ich mir das, was da passiert? Das kann dazu führen, dass Du anfangs jede Stunde detailliert aufschreibt. Beim ersten Analyse-Patienten, der phasenweise vier Mal pro Woche kommt, klappt das noch wunderbar, doch beim zweiten Patienten kann es im Arbeitsalltag schon eng werden.
Vielleicht hast Du selbst einmal eine Psychotherapie oder Psychoanalyse gemacht und erinnerst Dich, wie Du vielleicht nach jeder Stunde alles genau aufgeschrieben hast, um nichts zu vergessen oder zu übersehen. Vielleicht hast Du mit der Zeit bemerkt, dass Du das immer weniger brauchst. weil die Sitzung in Dir selbst – und nicht nur auf dem Papier – verankert ist. Ähnlich ist es im Psychotherapeuten-Leben vielleicht auch: Anfangs wird alles noch detailliert aufgeschrieben, doch dann kann man zum Wesentlichen übergehen.
Manche Analytiker schreiben auch schon während der Stunde mit,, doch schon Freud selbst riet davon ab:
„„Ich kann nur davor warnen, die Zeit der Behandlung selbst zur Fixierung des Gehörten zu verwenden. Die Ablenkung der Aufmerksamkeit des Arztes bringt dem Kranken mehr Schaden, als durch den Gewinn an Reproduktionstreue in der Krankengeschichte entschuldigt werden kann.“
Fußnote bei „Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose“ (1909) (Projekt Gutenberg).
Wenn Du schon in der Sitzung selbst mitschreibst, ist es vielleicht, als würdest Du während der Kommunikation mit Deinem Kind auf einmal mitschreiben. Dadurch würde Dein Erleben eingeschränkt. Wenn Du während der Stunde mitschreibst, frage Dich auch, ob es Dir dazu dient, mehr Abstand herzustellen. Manche Patienten mögen das Mitschreiben, weil sie das Gefühl haben, ernstgenommen und nicht vergessen zu werden. Andere wiederum fühlen sich verfolgt und werden misstrauisch.
Punktuelle Ausführlichkeit
Sinnvoll ist es aus meiner Sicht, die Stunden ausführlich aufzuschreiben, in denen eine spürbare Entwicklung stattgefunden hat. Es ist nicht immer leicht, auszuwählen, aber oft spürt man: „Das muss ich unbedingt aufschreiben!“ Anhand dessen wird auch manchmal erkenntlich, was in den Stunden „wirklich“ passiert ist, die man zuvor für weniger wichtig hielt. Auch die Sitzungen, in denen alles zu stagnieren scheint, können im Rückblick wichtig sein. Natürlich schreibt man auch die Stunden, die man im kasuistisch-technischen Seminar (KT) vorstellen möchte, relativ ausführlich auf.
Häufig reicht es, sich nach den Sitzungen stichpunktartige Notizen zu machen und nur die Stunde gründlicher vorzubereiten, die vor der nächsten Supervision stattfindet. Entscheidende Punkte wie z.B. die Erzählung des ersten Traums (Initialtraum) oder des Gegenübertragungstraums in einer Analyse sollten vielleicht besonders ausführlich aufgeschrieben werden.
Ob man so vorgehen möchte oder nicht, hängt neben den eigenen Vorlieben auch von den denjenigen des Supervisors ab. Manche Supervisoren brauchen nichts Schriftliches, sondern gehen die Stunden anhand der spontanen Einfälle und Erinnerungen mit einem durch.
Ich selbst habe das Geschriebene für einen Supervisor wöchentlich ausgedruckt, während ich bei einem anderen Supervisor gar keine Notizen mitbringen sollte. Einige Kollegen nehmen nur ihren Laptop mit in die Supervision.
Nach der Stunde auch die Gedanken während des Schweigens notieren
Wenn Patienten in einer Sitzung lange schweigen, gehen einem oft viele Gedanken durch den Kopf. Hier kann es sinnvoll sein, die eigenen Gedanken und Gefühle nach der Sitzung genauer aufzuschreiben. Ich selbst schreibe in den Stunden nie mit, weil es mich zu sehr ablenkt. Gerade dann, wenn eine Phase des Schweigens eintritt, erscheint es mir wichtig, gemeinsam zu schweigen und selbst auch nichts aufzuschreiben. Sehr selten mache ich mir eine kurze Notiz während der Sitzung.
In den Dokumentationen und Erzählungen über den Patienten sollten in der Regel keine vollständigen Namen und Städtenamen auftauchen. Man spricht häufig von „Frau A.“ oder „Herrn B.“. In Ausnahmefällen ist es jedoch sinnvoll, den ein oder anderen vollen Namen zu erwähnen, weil Namen mit bestimmten Assoziationen verbunden sind. Wir leben schließlich auch mit den unbewussten Bedeutungen unserer Namen – so kann es z.B. interessant werden, wenn ein narzisstischer Patient „(Auf-)Schneider“ heißt oder ein Patient mit einer Essstörung den Nachnamen „Esser“ trägt. Auch für Supervisoren und Supervisorinnen gilt die Schweigepflicht. In öffentlichen Seminaren oder Prüfungen kommen weiterhin nur Abkürzungen vor.
Weniger ermüdend als Word: Notizblöcke
„Ich habe für jeden Patienten ein eigenes Notizbuch“, sagt eine Kollegin. „Ich habe ein Notizbuch für alle Patienten“, sagt eine andere. Die handschriftliche Arbeit auf Papier ist oft weniger ermüdend als das Eintippen am Rechner. Zwar müssen Patientendokumentationen auch elektronisch gespeichert werden, aber da reichen Zusammenfassungen. Die Notizbücher kann man zusammen z.B. mit USB-Sticks in verschließbaren Fächern lagern. Manche nutzen auch die Diktierfunktionen oder Spracherkennungsprogramme wie „Dragon“ (nuance.com) oder für das iPhone Apps wie z.B. „Diktat – Sprache zu Text“.
Patienten haben das Recht, Einblick in die Dokumentation des Analytikers zu nehmen. Auch das sollte man im Hinterkopf behalten. Da kann es unter Umständen sinnvoll sein, in fraglichen Fällen eine „offizielle Dokumentation“ anzulegen sowie eine private mit persönlichen Notizen wie z.B. eigenen Assoziationen und Gegenübertragungsträumen. Auch kann man mit Patienten, die einen Einblick in die Notizen wünschen, darüber sprechen, was dies für sie bedeutet und mit ihnen eruieren, warum sie das wollen. In der Psychoanalyse ist es meiner Erfahrung nach besser, wenn der Patient nichts über sich selbst liest.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 24.7.2016
Aktualisiert am 13.1.2024
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